1950er Jahre – Gründungsphase
Am 23. November 1958 gründen Fachleute und Eltern in Marburg die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“.
Die Initiative dazu geht von dem niederländischen Pädagogen Tom Mutters aus, der die Arbeit der Lebenshilfe in den nächsten Jahrzehnten prägen sollte. Vielen Eltern erscheint die Gründung der Lebenshilfe als ein “Lichtstrahl im Schattendasein ihrer behinderten Kinder“. Hilfen und Förderung sollen – so die Grundidee der Lebenshilfe – möglich werden ohne Heimaufenthalt und Trennung von der Familie. Eltern ermutigen sich gegenseitig, ihre Kinder nicht mehr zu verstecken, sondern selbstbewusst zu ihnen zu stehen. In zahlreichen Städten und Landkreisen gründen sie Orts- und Kreisvereinigungen der Lebenshilfe und organisieren Hilfe und Förderung.
Beiträge zu den 1950er Jahren
Es war ein schöner Herbsttag. Am 23. November 1958, einem Sonntag, wurde in Hessen ein neuer Landtag gewählt. Doch zum Wählen waren die 15 Frauen und Männer nicht in die idyllische Universitätsstadt Marburg gekommen. Der niederländische Pädagoge Tom Mutters hatte sie in die Erziehungsberatungsstelle eingeladen, um „Möglichkeiten der Gründung eines deutschen nationalen Vereins von Eltern und Freunden geistig Behinderter“ zu erörtern. Mutters hatte bereits einige Jahre Erfahrung. Im hessischen Goddelau betreute er seit 1952 „Displaced Persons“ − behinderte Kinder, deren Eltern im Krieg verschleppt worden waren. Diese Erfahrungen und Reiseeindrücke aus dem Ausland hatten ihn gelehrt, dass man für Menschen mit geistiger Behinderung viel mehr tun konnte.
In Marburg trafen sich an diesem 23. November 1958 Fachleute und Eltern, die einen praktischen Weg der Hilfe für ihre Kinder mit geistiger Behinderung suchten. Sie strebten nach einer Förderung ohne Heimaufenthalt und Trennung von der Familie, wie bis dahin üblich. Tom Mutters hatte sie in seinem Einladungsschreiben über die Arbeit in anderen Ländern informiert und sah auch in Deutschland gute Chancen:
„Die Anregung, derartige Einrichtungen auch hier ins Leben zu rufen, wird von einer einflussreichen Elternorganisation ausgehen müssen, die nicht müde wird, sich immer wieder dort, wo es notwendig ist, für das Wohl und Glück ihrer Schützlinge einzusetzen.“ (Tom Mutters, 1958)
Die in Marburg Versammelten waren zu unermüdlichem Einsatz bereit – ja, sie betrachteten Mutters ’ Initiative geradezu als Glücksfall. Die Gründung der Lebenshilfe erschien vielen Eltern „wie ein Lichtstrahl im Schattendasein ihrer behinderten Kinder“, wie sich Mutters später erinnerte.
„Ich weiß nicht, ob uns allen ganz bewusst war, was wir da getan hatten. Wir waren wohl mitgerissen und begeistert zur Mitarbeit.“ (Emilie Neumann, Mitgründerin und Mutter eines Kindes mit geistiger Behinderung )
Zielstrebig und zügig wurde die Idee der gemeinsamen Hilfe umgesetzt. Die Elternvereinigung sollte bundesweit ausgerichtet sein sowie mit Institutionen und Verbänden ähnlicher Zielsetzung zusammenarbeiten. Hauptaufgabe war die Reform der Behindertenpädagogik sowie die Schaffung von Heilpädagogischen Kindergärten, Tageseinrichtungen und Beschützenden Werkstätten. Nach längerer Diskussion waren sich die Gründer auch beim Namen einig: "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind".
Die Gründungsversammlung 1958 wählte einen Vorstand unter Vorsitz von Prof. Dr. Richard Mittermaier, Direktor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik in Frankfurt am Main. Hauptinitiator Tom Mutters fungierte als Schriftführer und in den ersten Jahren auch als ehrenamtlicher Geschäftsführer.
Im wissenschaftlichen Beirat waren zwei Personen vertreten, die später für einen handfesten Skandal bei der Lebenshilfe sorgen sollten: Prof. Dr. Werner Villinger hatte in der NS-Zeit als Gutachter über Zwangssterilisationen und Euthanasie befunden, Prof. Dr. Hermann Stutte sich über Rassenhygiene habilitiert. Ob aus schlechtem Gewissen oder Verdrängung ihrer Vergangenheit – beide gehörten zu den tatkräftigen Gründern der Lebenshilfe. Mehr dazu finden Sie in den 1990er Jahren unter “Auseinandersetzung mit der Vergangenheit”.
Protokoll über die Gründungsversammlung von "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" in der Bibliothek der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Marburg/L.
Stichwort "Lebenshilfe"
Der Name sollte allgemein verständlich sein und zu den Zielen des Vereins passen. Wegen der Werbekraft, aber auch, weil es 1958 fast nur geistig behinderte Kinder gab, entschieden sich die Gründer für den Zusatz „ für das geistig behinderte Kind“. Doch sollte der Name auch zeigen, dass sich die Hilfe nicht auf Kinder beschränkte, sondern allen Menschen mit geistiger Behinderung zugute kam. So wählten die Gründer und Gründerinnen den Namen „Lebenshilfe“. Er drückte aus, dass die Hilfe für das ganze Leben gemeint war.
Den Ursprungsnamen „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“ behielt der Verein bis 1968, als er sich in „Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V.“ umbenannte. Der neue Name betonte, dass die Lebenshilfe sich um Menschen mit geistiger Behinderung aus allen Altersgruppen ein Leben lang kümmert.
Nach der Einführung des neuen Lebenshilfe-Logos 1995 wurde im Folgejahr auch der Name geändert. Seitdem heißt der Verein „Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.“
1958, im Gründungsjahr der Lebenshilfe, lag das dunkelste Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte erst 13 Jahre zurück. Das nationalsozialistische Terrorregime hatte auch die Menschen mit geistiger Behinderung systematisch verfolgt und ermordet. Die braunen Ideologen stempelten sie als „lebensunwert“ ab. Dabei beriefen sie sich auf eine sozialdarwinistisch geprägte Humangenetik. Sie war als „Rassenhygiene“ bereits in der Weimarer Republik von dem Psychiater Alfred Hoche und dem Strafrechtler Karl Binding vertreten worden.
Die „Tötung lebensunwerten Lebens“, so die schreckliche NS-Terminologie, wurde ab 1938 offen propagiert, Hitlers persönliche Zustimmung zu der als "Euthanasie" bemäntelten Mordaktion galt offiziell seit Kriegsbeginn am 1. September 1939. Nun gab es für "missgebildete" Kinder eine Meldepflicht.
Stichwort: „Euthanasie“
Unter der irreführenden Tarnbezeichnung „Euthanasie“ (wörtlich: „schöner Tod“) führte die NS-Regierung ab 1940 ein Programm zur systematischen Tötung missgebildeter Kinder (Gehirnfehlbildung) sowie geistig behinderter oder psychisch kranker Erwachsener durch. Missgebildete Kinder erhielten auf speziellen Stationen Medikamente oder man ließ sie verhungern. Erwachsene wurden in Tötungsanstalten vergast oder auf andere Weise umgebracht.
Im August 1941 wurde das Morden aufgrund von kirchlichem Protest vor allem des Münsteraner Bischofs Clemens August von Galen offiziell gestoppt. Bis dahin waren nachgewiesen mindestens 100 000 Menschen getötet worden. Unter strenger Geheimhaltung wurden 1941−45 weitere 30 000 Menschen getötet. Die Gesamtzahl der Opfer wird auf bis zu 250 000 geschätzt.
Noch lange nach Kriegsende spukten die Begriffe aus der NS-Zeit noch in den Köpfen vieler Bürger. Nicht wenige Deutsche hielten die Praxis der „Euthanasie“ weiterhin für richtig. Von „Vollidioten“ war die Rede; solche Kinder solle man am besten in Heime stecken, rieten Ärzte und Hebammen.
Aus Angst, Schuldgefühlen und Scham hielten die Eltern ihre Kinder mit geistiger Behinderung, die vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet worden waren, oft verborgen.
„Warum gerade ich?“, fragten sich viele Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung immer wieder. Besonders Verzweifelte dachten sogar daran, ihr Kind zu töten, einige taten es. Vorurteile, Intoleranz und offene Ablehnung durch eine unwissende Gesellschaft verurteilten geistig behinderte Kinder und ihre Eltern zu einem Dasein im Abseits.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs lag auch die Behindertenhilfe in Deutschland darnieder. In den ersten Nachkriegsjahren hatten die meisten Menschen zunächst andere Probleme zu lösen: ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu finden, nach vermissten Familienangehörigen und Freunden zu suchen und den nächsten Winter zu überleben.
Die Sorge für Menschen mit geistiger Behinderung blieb den Familien überlassen. Neben der Unterbringung in kirchlichen Einrichtungen gab es nur wenig. Fiel die Familie aus, landeten Menschen mit geistiger Behinderung in psychiatrischen Anstalten, Altenheimen oder Großeinrichtungen, wo sie nur verwahrt wurden.
Bereits seit Mitte der 1950er-Jahre hatten sich die Bedingungen allmählich verändert. Das „Wirtschaftswunder“ löste die meisten ökonomischen Versorgungsprobleme, mit wachsender zeitlicher Distanz zur NS-Zeit erweiterte sich auch der pädagogisch-wissenschaftliche Horizont. Mit den steigenden Geburtenzahlen in der Bundesrepublik Deutschland kamen auch wieder mehr Kinder mit geistiger Behinderung zur Welt, für die gesorgt werden musste.
Bitte lesen Sie dazu auch "Rahmenbedingungen der Behindertenhilfe im Nachkriegsdeutschland (1945-1958)", einen
Beitrag von Roland Böhm, Leitung des Lebenshilfe-Verlags Marburg
Was viele Bürgerinnen und Bürger dachten
- „Es gibt keine geistig Behinderten, sondern nur Schwachsinnige und Krüppel. Diese gehören nicht hochgepäppelt und auf unser aller Kosten großgezogen, sondern gleich nach der Geburt schnell und schmerzlos eingeschläfert.“ (Fotoreporter)
- „Aus solchen Idioten können auch Sie als Pädagoge keine Professoren machen.“ (Direktor einer Heil- und Pflegeanstalt zu Tom Mutters)
- „Die Euthanasie besteht vollkommen zu Recht. Es wird höchste Zeit, dass man wieder verkrüppelt zur Welt kommende Kinder einschläfert, umbringt, wie man es einst getan hat, weil man unnütze Esser nicht dulden durfte.“ (Zuschrift auf einen Spendenbrief)
Was Eltern und Angehörige empfanden
- „Niemand hilft uns, niemand kümmert sich um uns. Wir wissen nicht mehr. Was soll aus uns werden? Was können wir bloß tun?“ (Brief einer Mutter aus Süddeutschland)
- „Unser Sohn … konnte dann aber zu Hause nicht mehr gefördert werden, so dass wir ihn, wenn auch schweren Herzens, in eine Schwachsinnigen-Bildungsanstalt gaben, die 160 km von uns entfernt lag“. (Bert Heinen, Gründungsmitglied der Lebenshilfe)
- „Wir müssen alles in die Hände der Ärzte legen, die das sicher besser beurteilen können, besser als wir.“ (Zuschrift einer verzweifelten Mutter)
In Goddelau hatte der Niederländer Tom Mutters als Verbindungsoffizier der Vereinten Nationen für Kriegsverschleppte (Displaced Persons) 1952 die Betreuung von rund 50 Flüchtlingskindern mit geistiger Behinderung im Philipps-Hospital übernommen. Unter ihnen waren auch jüdische Mädchen und Jungen, deren Eltern nach ihrer Befreiung aus Konzentrationslagern emigriert waren. Sie hatten ihre Kinder zurücklassen müssen.
In Goddelau herrschten schwierigste Verhältnisse. Tom Mutters bot sich ein jämmerliches Bild: Kinder in Holzbettchen, zum Teil mit festgebundenen Händen, die in einem nach Exkrementen riechenden Raum an die Decke starrten und vor sich hin vegetierten. Mutters war erschüttert und beschloss, die schlimmen Zustände zu verbessern.
Es fehlte vollends an pädagogischen und sozialen Voraussetzungen für eine angemessene Förderung der Kinder. Doch Mutters, der von ihren Entwicklungsmöglichkeiten überzeugt war, gab die Jungen und Mädchen nicht verloren. In aller Welt informierte er sich über die Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung und organisierte Spendenaktionen. Mit Spielen, Kutschfahrten und anderen Abwechslungen brachte er ein bisschen Freude in das Leben der Kinder von Goddelau.
„In ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit haben die behinderten Kinder der Anstalt Goddelau mir ermöglicht, den wirklichen Sinn des Lebens zu erkennen, und zwar in der Hinwendung zum Nächsten.“ (Tom Mutters)
Durch Artikel in deutschen Zeitschriften und Presseberichte über Goddelau wurden auch Eltern behinderter Kinder auf die Einrichtung aufmerksam. In Briefen baten sie um Mithilfe für ihre Söhne und Töchter. Eine der engagierten Personen war Luise Mittermaier aus Bad Homburg, Mutter eines Sohnes mit Down-Syndrom. Per Zeitungsinserat suchte sie Kontakt zu anderen Müttern in ähnlicher Situation. Dem Zeitgefühl des Versteckens und Verschweigens von Behinderten entsprechend, erhielt sie nur eine Antwort, von Maria Grete Schütz aus Rodenkirchen. Beide gehörten 1958 zu den Gründungsmitgliedern der Lebenshilfe. Die Korrespondenzen einzelner Eltern und der Austausch von Fachleuten auch über Erfahrungen im Ausland führten zu ersten Kontakten.
Den entscheidenden Impuls zur Gründung der Lebenshilfe legte im Frühjahr 1958 ein Artikel in der Zeitschrift „Unsere Jugend“. Darin beschrieb Tom Mutters „Das geistig behinderte Kind in der heutigen Gesellschaft“. Mutters Erfahrungsberichte aus England, den Niederlanden und den USA beeindruckten den Bonner Amtsgerichtsrat Bert Heinen, Vater eines behinderten Kindes, so sehr, dass er mit dem Autor Kontakt aufnahm. Fachleute wie die Professoren Stutte, Villinger und Mittermaier waren ebenfalls interessiert. Mittermaier fasste zehn Jahre später die ersten Verbindungen in das Bild zusammen, dass „viele Rinnsale sich zu Bächen und Flüssen vereinigen, um dann in einem breiten Strom dahinzufließen.“
Was hat also die Gründung der Lebenshilfe entscheidend beeinflusst?
- Es waren betroffene Eltern, die sich für die Arbeit zur Verfügung stellten, ohne genau zu wissen, was auf sie zukam.
- Es waren engagierte Fachleute, die wie die Eltern die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung verbessern wollten.
- Und es war nicht zuletzt die unermüdliche Arbeit von Tom Mutters, der seine Lebensaufgabe gefunden hatte.
Rund zwei Monate nach der Gründungsversammlung, am 18. Januar 1959, gab sich die Lebenshilfe in Marburg ihre erste Satzung.
Aufgabe und Zweck war „die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen bedeuten“ (§ 2.1). Dazu gehörten z.B. heilpädagogische Kindergärten, Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und Beschützende Werkstätten.
Der Verein wollte „mit allen geeigneten Mitteln“ für ein besseres Verständnis der Öffentlichkeit gegenüber den Problemen von Menschen mit geistiger Behinderung werben. Er plante u. a. die Herausgabe und Verbreitung von Informations- und Aufklärungsschriften. Auf örtlicher und regionaler Basis sollte der Zusammenschluss von Eltern und Freunden von Menschen mit geistiger Behinderung angeregt werden. Die lokalen Vereinigungen sollten unterstützt sowie zu Informations- und Aufklärungsstellen ausgebaut werden.
Die Arbeit des Vereins sollte finanziert werden aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Subventionen sowie Erträgen aus Sammlungen und Werbeaktionen (§ 4). Organe der Lebenshilfe waren Mitgliederversammlung, Vorstand, Beirat und Arbeitsausschüsse. (§ 6).
Die Satzung des Vereins "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" e.V. vom 18. Januar 1959
In einem kleinen, hinter hohen Bäumen versteckten Schwarzwaldhaus am Stadtrand von Marburg bezog die Lebenshilfe Anfang 1959 ihr erstes improvisiertes Büro. Von den ersten Beiträgen und Spenden kaufte der Verein einen Vervielfältigungsapparat. Die gesamte Familie des „Schwarzwaldhauses“ sowie die Nachbarskinder halfen beim Zusammentragen und Heften der Blätter. Tom Mutters kam häufig vorbei, um die Korrespondenz zu erledigen und organisatorische Fragen zu besprechen.
Im Herbst 1959 stellte das Bundesfamilienministerium Finanzmittel zum Aufbau einer Geschäftsstelle in Aussicht. So zog die Lebenshilfe rund ein Jahr nach ihrer Gründung in ein Büro der Kreissparkasse in der Marburger Universitätsstraße um und stellte eine Sekretärin ein. 1962 siedelte der Verein in die neue Geschäftsstelle am Barfüßertor Nr. 25 über. Aus dem Büro ohne Telefon wurde in zehn Jahren eine Geschäftsstelle mit 19 Räumen und 19 Personen. Schnell wachsend, war sie eine notwendige Reaktion auf die rasante Mitgliederentwicklung der Lebenshilfe. 1959/60 traten ihr 1.500 Menschen bei, zehn Jahre nach der Gründung hatte sie bereits 38.000 Mitglieder.
Schnell waren in den großen Städten, auf dem Land und in kleineren Ortschaften die ersten Orts- und Kreisvereinigungen der Lebenshilfe entstanden. Tom Mutters war in vorderster Linie dabei: als mitreißender Redner, rühriger Organisator und Ansprechpartner für alle Eltern, die Rat suchten.
Früh erkannten Eltern und Fachleute, dass sie von außen keine Hilfe zu erwarten hätten, wenn sie nicht selbst bewiesen, dass Hilfe für Menschen mit geistiger Behinderung sinnvoll und durchführbar sei . Sie riefen nicht nach dem Staat, appellierten nicht an Mitleid und Wohltätigkeit, verließen sich nicht auf andere. Sie besannen sich auf ihre eigene Kraft und ihre persönliche Aufgabe. So gingen Eltern, die ihre Situation nicht länger erdulden, und Fachleute, die ihr Wissen einbringen wollten, in der Lebenshilfe gemeinsame Wege. Die Eltern erkannten: Sie mussten sich nicht nur für ihre eigenen Kinder einsetzen, sondern auch für die Kinder anderer Eltern. Wenn sie möglichst vielen Kindern mit geistiger Behinderung halfen, sorgten sie auch am besten für ihren eigenen Sohn oder ihre eigene Tochter.
Auch die Fachleute erkannten, dass sie die Probleme lange vernachlässigt hatten. Schon im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Lebenshilfe stellten sich namhafte Experten in den Dienst des Vereins und standen ihm mit Rat und Tat zur Seite.
Diese ersten Jahre waren geprägt von beispielloser Freiwilligkeit und Opferbereitschaft, von unermüdlichem Einsatzwillen und persönlicher Begegnung, von tiefem Solidaritätsbewusstsein der Eltern, Helfer und Förderer.
In diesen frühen Jahren entstand ein Begriff, der auf die Verbundenheit, das Engagement und die Liebe der in der Lebenshilfe aktiven Personen hinweist: „Unsere Kinder“. (Kurt Wildner, Journalist)
Die Jahre:
Menschen: Dr. h.c. Tom Mutter
Geboren am 23. Januar 1917 in Amsterdam, leitete Tom Mutters von 1945 bis 1949 des Schulfilminstitut seine Heimatstadt. Danach war er bis 1952 Beauftragter im Kindersuchdienst der Vereinten Nationen (UN).
1952-1958 arbeitete er als Verbindungsoffizier im Auftrag des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge im Philipps-Hospital in Goddelau für schwer geistig behinderte Kinder verschleppter Personen, Flüchtlingsfamilien und KZ-Überlebender.
Bis 1960 war Mutters ehrenamtlicher Geschäftsführer und gehörte bis 1964 dem Bundesvorstand an. Von 1960 bis 1988 leitete er als hauptamtlicher Geschäftsführer die Lebenshilfe. 1989 wurde er Ehrenvorsitzender.
1960 gehörte Mutters zu dem Gründern der "Europäischen Liga von Vereinigungen für Menschen mit geistiger Behinderung" (heute "Inclusion International"), 1964 regte er die Gründung der "Aktion Sorgenkind" an, der heutigen "Aktion Mensch". 1967 gab Mutters den Impuls zur Gründung der "Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte", der heutigen "Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen".
1971 war er Mitinitiator der "Hilda-Heinemann-Stiftung". Auch nach dem Ende seiner hauptberuflichen Tätigkeit blieb Tom Mutters für die Lebenshilfe aktiv, vor allem beim Aufbau von Selbsthilfestrukturen in Zentral- und Osteuropa sowie nach der Wiedervereinigung 1990 in den neuen deutschen Bundesländern.
Ereignisse:
Erfahrungen als Verbindungsoffizier der Vereinten Nationen (UN) mit schwer geistig behinderten Kindern im hessischen Goddelau führen Tom Mutters zu dem Entschluss, die Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung zur Lebensaufgabe zu machen.
13. November 1958
Tom Mutters verschickt in ganz Deutschland Einladungen an Eltern und Fachleute zu einer Besprechung in Marburg, um eine deutsche Vereinigung von Eltern und Freunden geistig behinderter Menschen zu gründen.
23. November 1958
In Marburg gründen 15 Eltern und Fachleute mit Tom Mutters die "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.". Prof. Dr. Richard Mittermaier wird erster Vorsitzender, außerdem gehören dem Bundesvorstand Bert Heinen, Tom Mutters und Paul Abel an.
Das Protokoll der Gründungsversammlung mit den Namen aller 15 Gründungsmitglieder.
Menschen: Prof. Dr. Richard Mittermaier
Vorsitzender der Lebenshilfe von 1959-1968
Ereignisse:
18. Januar 1959
Die Lebenshilfe erhält eine Satzung. Ehrenamtlicher Geschäftsführer wird Tom Mutters.
In Marburg richtet die Lebenshilfe ein provisorisches Büro ein und veröffentlicht ihr Rahmenprogramm.
Tom Mutters veröffentlicht seine Schrift "Beschützende Werkstätten für Behinderte".
In Köln, Bonn, Marburg, Frankfurt am Main, Solingen, Bielefeld, Gießen und Hannover entstehen die ersten Ortsvereinigungen der Lebenshilfe.