Komplexe Behinderung
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Komplexe Behinderung
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Menschen mit komplexen Behinderungen

Menschen mit komplexen Behinderungen werden oft nicht mitgedacht: in der Politik, in der Gesellschaft und auch in der Behindertenhilfe. Ihnen ist gemeinsam, dass sie aus vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen sind. Sie besuchen oft separate Bildungs-, Arbeits- oder Freizeitangebote und wohnen in spezialisierten Einrichtungen oder sogar Pflegeeinrichtungen.

Leben mit komplexer Behinderung
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Menschen mit komplexen Behinderungen

Menschen mit komplexen Behinderungen werden sehr unterschiedlich bezeichnet:

  • Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf,
  • Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung,
  • schwerst mehrfach behinderte Menschen oder
  • Menschen mit Schwerst-/Mehrfachbehinderung.

Bis heute gibt keinen allgemeingültigen Begriff. So gibt es unterschiedliche Definitionen, Annahmen und Theorien, die den unterschiedlichen Begriffen zugrunde liegen. Die Bezeichnung “Komplexe Behinderung” ist auf Barbara Fornefeld zurückzuführen, die den Begriff prägte. In ihrem Verständnis unterscheidet sich der Personenkreis stark in den Beeinträchtigungen, nicht aber in der Komplexität ihrer Lebensbedingungen.

Behinderungen durch die Bedingungen der Umwelt: Behinderung wird heute mit dem bio-psycho-sozialen Modell beschrieben: In diesem Modell wird die individuelle Schädigung einer Person mit den Bedingungen der Umwelt zusammen betrachtet. Eine zum Beispiel körperliche Schädigung wird erst dann zur Behinderung, wenn die Umweltbedingungen nicht angepasst werden (können). Diese Wechselwirkungen zwischen körperlichen und psychischen Einschränkungen und den Umweltbedingungen führen zu Beeinträchtigungen in den Aktivitäten. Die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ist eingeschränkt. (Mehr dazu gibt es auf unserer Seite zur Bezeichnung “geistige Behinderung”.) Menschen mit komplexen Behinderungen sind oft stärker von Exklusion betroffen.

Merkmale komplexer Behinderung

Neben einer geistigen Behinderung verfügt der Personenkreis über weitere gemeinsame Merkmale, von denen nicht alle zutreffen müssen:

  • zusätzliche Lebenserschwernisse (gesundheitliche Belastungen)
  • lebenslanger Unterstützungsbedarf (auch bei den vitalen Grundbedürfnissen)
  • permanenter Anpassungsbedarf der Umgebung oder der Person selbst
  • Unterstützung in der Kommunikation
  • Bedarf an Einzelzuwendung (und damit eine gewisse Abhängigkeit von anderen Personen)
  • ständige Erfahrungen des Scheiterns aufgrund des Abbruchs von sozialen Beziehungen über die gesamte Lebensspanne hinweg (beispielsweise durch wechselnde Unterstützer*innen)
  • besondere Betroffenheit von:
    • sozialer Ausgrenzung,
    • strukturellem Ausschluss bzw. Exklusion,
    • Sonderbehandlungen oder
    • fehlender Sichtbarkeit innerhalb der Gesellschaft

Menschen mit komplexen Behinderungen als Gruppe

Die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Behinderung sind vielschichtig. Menschen mit komplexen Behinderungen sind eine sehr heterogene Gruppe – ihre Exklusionserfahrungen ähneln sich jedoch stark

Um die Rechte von Menschen mit komplexen Behinderungen zu stärken, ist es für die Bundesvereinigung Lebenshilfe wichtig, sie als Gruppe wahrzunehmen. So kann sie zu mehr Teilhabe beitragen. Zum Beispiel bei Passungsproblemen in der Gesetzgebung oder durch das Informieren über den Anspruch auf Leistungen. Außerdem kann die Bundesvereinigung so auch auf unzureichende oder fehlende Angebote in der Praxis aufmerksam machen. 

Mensch mit komplexer Behinderung in einem Rollstuhl
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Erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen

Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen, dass sowohl in der Praxis als auch in der Fachwissenschaft keine umfassenden und fundierten Konzepte vorliegen, mit denen Angebote für erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen geplant und gestaltet werden können. Mangels alternativer Konzepte orientiert sich die planerische und methodische Umsetzung von Angeboten oft an den frühen und frühsten Stufen der kindlichen Entwicklung.

Erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen erhalten damit oft Bildungs-, Arbeits- und Freizeitangebote, die für (Klein-)Kinder vorgesehen sind und sie nicht als erwachsene Personen wahrnehmen. 

Zusätzlich wünschen sich pädagogische Fachkräfte geeignete Weiterbildungen. Dabei geht es zum Beispiel um eine gute Angebotsgestaltung in tagesstrukturierenden Einrichtungen für erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen.

Tagesstrukturierende Angebote

Menschen mit komplexer Behinderung besuchen nach der Schulzeit meist tagesstrukturierende Angebote, die bundesweit unterschiedlich bezeichnet werden:

  • Tagesförderstätten,
  • Förder- und Betreuungsbereiche,
  • Arbeitsbereiche,
  • Tagesbeschäftigungszentrum,
  • Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung.

Diese Arbeits- und Bildungsorte finden sich oft unter einem Dach der Werkstatt für Menschen mit Behinderung wieder. In separaten kleineren Gruppen (z. B. 6 bis 8 Personen) werden Menschen mit komplexen Behinderungen mit einem höheren Personalschlüssel als in der Werkstatt unterstützt.

In ihrer Konzeption unterscheiden sich diese nachschulischen Angebote stark. Es gibt keine bundesweiten Qualitätsstandards, so ist es den einzelnen Einrichtungen überlassen ein Arbeits- und Bildungsangebot zu entwickeln und an die individuellen Bedürfnisse anzupassen.

Hinweis: Eine Ausnahme stellt das Bundesland Nordrhein-Westfalen dar. Dort können Menschen mit komplexen Behinderungen auch das Angebot von Werkstätten wahrnehmen.

Qualitätsoffensive – Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung
Qualitätsoffensive – Teilhabe von erwachsenen Menschen mit schwerer Behinderung | Ein Handbuch für Praxis, Aus- und Weiterbildung

Materialien für Mitarbeiter*innen an Arbeits-, Bildungs- und Wohnorten

In dem Forschungsprojekt „Qualitätsoffensive Teilhabe“ unter Leitung von Prof. Wolfgang Lamers wurden in den Jahren 2016 bis 2020 Materialien mit der Praxis entwickelt. Diese Materialien dienen der fachlichen Weiterbildung und sind in einem multimedialen Webportal zugänglich. Dort sind über 60 Filme, 1000 Seiten Textmaterial, 250 Impulsfragen und Reflexionsübungen sowie 1000 Hinweise zu weiterführenden Materialien zugänglich. Zusätzlich wurde ein Buch in Kooperation mit dem Lebenshilfe-Verlag veröffentlicht.

Die Materialien sind besonders für Fachkräfte in Tagesförderstätten oder Förder- und Betreuungsbereichen geeignet. Doch auch Mitarbeiter*innen in Wohnangeboten, Auszubildende und Studierende sind eine Zielgruppe.

Thematisch werden theoretischen Grundlagen zu Pflege, Ethik, Menschenbild oder Kommunikation in den Videos und Texten bearbeitet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen mit komplexen Behinderungen grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderung haben. Die Teilhabe an alltäglichen, arbeitsweltbezogenen und kulturellen Angeboten steht im Mittelpunkt der Materialien.

In dem Projekt wurde außerdem festgestellt, dass ein stark verkindlichendes Menschenbild in der Praxis vorherrscht. Dieses hindert Menschen mit komplexen Behinderungen an einer erwachsenengerechten Teilhabe.

Dieses Menschenbild äußert sich zum Beispiel in diesen Bereichen:

  • Ansprache (z. B. “Du” statt “Sie”)
  • Bezeichnung von Angeboten (z. B. “Morgenkreis” statt “Arbeitsbesprechung”)
  • Auswahl pädagogischer Angebote (z. B. Kinderlieder, Malbücher für Kinder)
  • Hierarchie im Alltag (z. B. koffeinhaltiger Kaffee nur für begleitendes Personal)
  • Nicht-Ernst-Nehmen (z. B. über einen Menschen sprechen in dessen Anwesenheit)

So wird zum Beispiel die Teilhabe am Arbeitsleben komplett ausgespart und Arbeitsangebote nicht bereitgestellt. Die Weiterbildungsmaterialien zeigen auf, wie erwachsenengerechte Angebote für Menschen mit komplexen Behinderungen teilhabeorientiert und altersentsprechend gestaltet werden können.

Mehrfachbedingungen
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