Rechtsdienst kompakt
In folgenden Kompaktbeiträgen aus dem Rechtsdienst stellen wir interessante Rechtsprechungen und Neuerungen aus der Gesetzgebung in aller Kürze für Sie dar – verständlich und mit hoher Aktualität.
Hinweis: Die folgenden Kompaktbeiträge wurde im Rechtsdienst der Lebenshilfe abgedruckt und erstveröffentlicht. Hier können Sie sich über die aktuelle Ausgabe des Rechtsdienstes informieren.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 3/2024
Das BSG hatte über die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in einer Angelegenheit der privaten Pflegeversicherung zu entscheiden.
Kläger sind die Rechtsnachfolger*innen des während des laufenden Klageverfahrens verstorbenen Versicherten. Der vom Versicherten gestellte Antrag auf Leistungen wurde von der beklagten privaten Pflegeversicherung abgelehnt. Im Ablehnungsschreiben wies die Beklagte auf die Möglichkeit hin, innerhalb eines Monats Einwendungen geltend machen zu können. Hiervon machte der Versicherte, vertreten durch eine Rechtsanwältin, gebrauch. Die Beklagte hob ihre Ablehnung daraufhin auf. Die Erstattung der Rechtsanwaltskosten lehnte sie ab.
Die Klage des Versicherten auf Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten war erfolgreich. Berufung und Revision der Beklagten blieben erfolglos.
Mit Urteil vom 22.02.2024 (Az: B 3 P 8/22) entschied das BSG: Eröffne das Versicherungsunternehmen in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung gegen seine Entscheidungen ein vorgerichtliches fakultatives Einwendungsverfahren, welches dem obligatorischen Widerspruchsverfahren gegen Verwaltungsakte in Angelegenheiten der sozialen Pflegeversicherung nachgebildet sei, fänden die Regelungen zur Erstattung von Kosten im Vorverfahren (§ 63 SGB X) entsprechend Anwendung.
Die Voraussetzungen einer Analogie lägen vor. Für den Gleichlauf spreche u. a. die durch § 23 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 Nr. 3 SGB XI vorgegebene Gleichwertigkeit von Leistungen der privaten und der sozialen Pflegeversicherung und der Gleichlauf des gerichtlichen Rechtsschutzes (§ 51 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGG). (Ba)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/24, S. 146)
Das SG Aachen hatte sich in seinem Urteil vom 17.03.2023 (Az: S 15 KR 68/19) mit der Frage zu befassen, ob ein 1,93 m großer, querschnittgelähmter Student Anspruch auf die Versorgung mit einem Exoskelett hat. Der Kläger beantragte das Hilfsmittel mit der Begründung, dass er es benötige, um trotz seiner Querschnittlähmung wieder gehen zu können. Die Krankenkasse lehnte den Anspruch jedoch ab. Der Kläger sei mit seiner Körpergröße von 1,93 m zu groß für die Verwendung des Exoskeletts. Außerdem sei eine gesunde Knochendichte Voraussetzung für die Nutzung. Eine solche sei beim Kläger aber nicht gegeben, da er Osteoporose habe.
Das SG folgte dieser Auffassung nicht und verpflichtete die Krankenkasse zur Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel. Es seien keine Passprobleme bei der per Videodokumentation festgehaltenen Erprobung aufgetreten. Außerdem komme es für die Nutzung nicht auf die Gesamtkörpergröße, sondern auf die Beinlänge an. Auch die Osteoporose schließe die Nutzungsmöglichkeit nicht aus. Der Kläger verfüge, trotz eines reduzierten Knochendichtewertes am linken Schenkelhals, insgesamt über eine gesunde Knochendichte. Der bei ihm gemessene Wert liege deutlich über dem Wert, den das Benutzerhandbuch als ausreichend ausweise. (K-A)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/24, S. 145)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/2024
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 26.10.2023 (Az: C-307/22) ausgeführt, unter welchen Voraussetzungen Patient*innen nach den Vorschriften der DSGVO Anspruch auf eine kostenlose Kopie ihrer Patientenakte haben.
Der Entscheidung lag ein Rechtsstreit vor dem BGH zugrunde, in dem der Kläger von seiner behandelnden Zahnärztin die kostenlose Herausgabe seiner Patientenakte verlangte, da er einen Behandlungsfehler vermutete. Die Zahnärztin war dazu aber nur bereit, wenn der Kläger ihr die hierdurch entstehenden Kosten erstattete, wie es § 630g Abs. 2 S. 2 BGB vorsieht. Der BGH stellte fest, dass den Vorgaben des deutschen Rechts europäisches Recht, namentlich Art. 15 Abs. 1 und 3 sowie Art. 12 Abs. 5 DSGVO, entgegenstehen könnte. Danach können Betroffene von der für die Datenverarbeitung verantwortlichen Person eine kostenlose Erstkopie der gespeicherten und verarbeiteten Daten verlangen. Daher ersuchte der BGH den EuGH um Bewertung, wie mit diesem Widerspruch umzugehen sei.
Der EuGH hat nun entschieden, dass das Recht auf kostenlose Erstkopie der Patientenakte aus der DSGVO nicht uneingeschränkt gilt. Vielmehr könne eine Beschränkung durch das deutsche Recht mit dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Personen gerechtfertigt werden. Der Schutz von wirtschaftlichen Interessen der behandelnden Ärzt*innen reiche als Rechtfertigung aber nicht aus. Sollte die Vorschrift des § 630g Abs. 2 S. 2 BGB, wie der BGH meine, nur diesem Schutz dienen, könne sie den europarechtlichen Anspruch auf kostenlose Erstkopie der Patientenakte somit nicht beschränken. (K-A)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/24, S. 95)
Mit der gesetzlichen Einführung der Übermittlungspflicht für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzt*innen zum 01.01.2021 ist die Obliegenheit der Versicherten zur Meldung einer vertragsärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Krankenkasse entfallen. Das entschied das BSG mit Urteil vom 30.11.2023 (Az: B 3 KR 23/22 R).
Der Anspruch von Versicherten* auf Krankengeld ruhe demnach nicht gem. § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, wenn durch die Vertragsärzt*in – entgegen der seit 01.01.2021 gesetzlich begründeten Pflicht – die unmittelbare elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten an die Krankenkasse nicht erfolgt. Die Regelung des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, wonach der Anspruch auf Krankengeld nicht ruhe, wenn die Meldung der Arbeitsunfähigkeit innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder die Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten im elektronischen Verfahren erfolge, knüpfe nicht an die tatsächliche Übermittlung an. Die Norm sei i. S. v. „wenn… zu erfolgen hat“ zu verstehen.
Dies gelte unabhängig davon, ob der Versicherten* bekannt gewesen sei, dass eine elektronische Übermittlung durch die Ärzt*in, bspw. aus technischen Gründen, nicht möglich gewesen sei.
Diese Rechtsprechung ist übertragbar auf für die im Arbeitsbereich einer Werkstatt Beschäftigten*, die nach § 5 Abs. 2 Nr. 7 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind. (Ba)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/24, S. 95)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/2024
Das VG Köln stellte mit Urteil vom 21.07.2023 (Az: 25 K 6021/20) die Rechtmäßigkeit der Ablehnung einer beantragten Autismustherapie fest. Die Eltern des Klägers begehrten Eingliederungshilfe in Form einer Autismustherapie beim Träger der Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII. Ausweislich des Attests des sozialpädiatrischen Zentrums waren beim Kläger eine unterdurchschnittliche inhomogene Lern- und Leistungsfähigkeit, eine Rechenstörung und nächtliche Inkontinenz festgestellt worden. Pädagogische Gutachten bestätigten überdies eine Dyskalkulie und eine Legasthenie. Eine weitere ärztliche Stellungnahme hatte „Asperger-Syndrom und Verdacht auf einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ diagnostiziert und eine Autismustherapie empfohlen.
Das Jugendamt hatte die Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII abgelehnt und stattdessen einen erzieherischen Bedarf nach § 29 SGB VIII anerkannt.
Das VG hielt die Feststellungsklage schon für unzulässig. Es fehle am Feststellungsinteresse. Die Frage, ob eine seelische Behinderung bestehe oder drohe, sei immer aktuell zu bewerten. Insofern hätte eine Feststellung zur seelischen Behinderung keine Wirkung für ein künftiges Verfahren. Ebenso war die Klage laut VG unbegründet. Eine Teilhabebeeinträchtigung habe weder vorgelegen noch gedroht. Dies sei bspw. bei Schulphobie, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder bei Vereinzelung in der Schule anzunehmen. Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen beurteilten das Vorliegen der Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit, während eine Teilhabebeeinträchtigung das Jugendamt feststelle. Auch wenn die Diagnose eines Asperger-Autismus eine Teilhabebeeinträchtigung nahelege, bestehe kein Automatismus. Der Kläger leide nicht an einer Schulphobie und sei auch nicht total vereinzelt in der Schule. Daher sei trotz des sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht von einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung auszugehen.
Die Entscheidung überrascht, da die Überprüfung der Teilhabebeeinträchtigung eine Orientierung anhand der neun in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) beschriebenen Bereiche der Aktivitäten und damit eine „funktionsbezogene Bedarfsermittlung“ nach § 13 Abs. 2 SGB IX vermissen lässt. (AW)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/24, S. 46)
Darf die Krankenkasse ein Persönliches Budget für außerklinische Intensivpflege ablehnen, wenn der Antragssteller nicht die Arbeitsverträge und Qualifikationsnachweise der Pflegepersonen vorlegt? Mit dieser Frage hatte sich das SG München in seinem Beschluss vom 23.12.2022 (Az: S 29 KR 1606/22 ER) zu befassen. Der Antragsteller benötigte täglich eine 24-stündige Überwachung zur Sicherstellung seiner Beatmung. Er beantragte ein Persönliches Budget für die Finanzierung einer Pflegeperson für 13 Stunden, um seine Ehefrau zu entlasten.
Das SG verpflichtete die Krankenkasse zur Gewährung des Persönlichen Budgets. Die Vorlage der begehrten Nachweise sei nicht erforderlich. Von dem Antragsteller könne nicht verlangt werden, Arbeitsverträge abzuschließen, bevor ihm überhaupt die entsprechenden Mittel bewilligt worden seien. Aus demselben Grunde erscheine es auch fragwürdig, Qualifikationsnachweise des noch nicht angestellten Personals einzufordern. Eine entsprechende Verpflichtung ergebe sich insbesondere nicht aus § 29 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 und 3 SGB IX, da die Vorschrift insoweit zu unbestimmt sei.
Mit dem Beschluss stärkt das SG die Position der Versicherten. Das ist erfreulich, denn bei der Umsetzung der umstrittenen Neuregelung zur außerklinischen Intensivpflege kommt es in der Praxis vermehrt zu Problemen (vgl. den Beitrag von Katja Kruse zur Außerklinischen Intensivpflege im Rechtsdienst 1/2024, S. 4 ff.). (K-A)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/24, S. 46)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/2023
Die rechtliche Betreuerin des Betreuten beantragte beim AG, den Aufgabenkreis auf die Bestimmung des persönlichen Umgangs mit einer guten Bekannten des Betreuten zu erweitern. Hintergrund war, dass der Betreute mehrmals bei dieser Bekannten übernachtet, dort Alkohol konsumiert hatte und erst am nächsten Tag ins Pflegeheim zurückgekehrt war.
Das AG Brandenburg lehnte dies in seinem Beschluss vom 10.11.2022 – Az: 85 XVII 127/20 ab. Die Befugnis zur Umgangsbestimmung könne notwendig sein, wenn die rechtlich betreute Person krankheits- oder behinderungsbedingt nicht in der Lage sei, eigenverantwortlich über ihren Umgang zu befinden bzw. sich einem unerwünschten und schädigendem Umgang zu entziehen. Jedoch dürfe die Betreuer*in ohne sachlichen Grund nicht den Kontakt der rechtlich betreuten Person zu einer anderen Person unterbinden. Stattdessen müsse hierfür eine konkrete Gefährdung der rechtlich betreuten Person vorliegen. Dies sei z. B. anzunehmen, wenn die dritte Person Gewalt gegen die rechtlich betreute Person ausübe, ihr Kontakt zu Drogen vermittle, sie psychisch unter Druck setze oder ihr Geld oder andere Vermögenswerte „abschwatze“.
All dies sei vorliegend nicht der Fall. Sei die rechtlich betreute Person noch in der Lage, selbst zu entscheiden, wie viel Kontakt sie zu einer bestimmten Person wünsche, sei dies zu beachten. Hierbei müsse auch der auf einem natürlichen Willen beruhende Wunsch beachtet werden. Gut gemeintes therapeutisches Vorgehen gegen den Willen der rechtlich betreuten Person und ohne konkrete Gefährdungsmomente rechtfertigten es nicht, den Umgang zu bestimmen. Dies widerspreche fundamental dem Selbstbestimmungsrecht der rechtlich betreuten Person. Denn grundsätzlich könne jeder selbst bestimmen, mit wem er wie umgehen wolle, auch wenn dies gegen die Wertevorstellungen der rechtlichen Betreuer*in verstoße. (LH)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/23, S. 195)
Zu entscheiden war, ob vorliegend die grundsätzliche Pflicht des Wohnanbieters (Beklagter) zur Anpassung von Leistungen wirksam nach § 8 Abs. 4 des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) ausgeschlossen worden war. Auf diesen Ausschluss stützte der Beklagte seine Kündigung des WBVG-Vertrags gegenüber dem Bewohner (Kläger). Hintergrund der Kündigung durch den Beklagten waren mehrere Vorfälle, bei denen der Kläger mit Messern angetroffen worden war.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung. Das LG Landshut gab der Klage statt (Urteil vom 10.02.2023 – Az: 54 O 1058/22) und verurteilte den Beklagten, den Kläger wieder in die Wohneinrichtung aufzunehmen. Dem schloss sich das OLG München an (Beschluss vom 23.05.2023 – Az: 20 U 1138/23e) und wies die Berufung des Beklagten zurück.
Die Kündigung des Beklagten sei mangels Vorliegens der Voraussetzungen unwirksam. Insbesondere fehle es für eine wirksame Kündigung nach § 12 Abs. 1 S. 3 Nr. 2b WBVG an einem ordnungsgemäßen Ausschluss der Leistungsanpassung.
Für einen solchen Ausschluss müsse nach § 8 Abs. 4 WBVG zwingend eine Vereinbarung der Parteien in Schriftform geschlossen werden. Die vorliegende Vereinbarung habe jedoch nur der Kläger unterschrieben. Erforderlich sei jedoch eine Unterzeichnung durch beide Vertragsparteien. Selbst bei einem wirksamen Ausschluss wäre indes noch die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses sowie das berechtigte Interesse des Beklagten an der Beendigung des WBVG-Vertrags festzustellen gewesen. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/23, S. 195 f.)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 3/2023
Gemäß § 13 Abs. 3a SGB V haben Versicherte einen Kostenerstattungsanspruch, wenn die Krankenkasse (KK) nicht fristgemäß über ihren Antrag entscheidet und sie sich die Leistung nach Ablauf der Frist im Vertrauen auf einen bestehenden Leistungsanspruch selbst beschaffen. In diesem Zusammenhang hatte sich das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 15.03.2023 (Az: L 9 KR 357/20) mit der Frage zu befassen, welche Partei die Beweislast für den rechtzeitigen Zugang des Ablehnungsbescheides trägt und wann Versicherte nicht mehr auf das Vorliegen eines Leistungsanspruchs vertrauen dürfen. In der Sache ging es um die Kostenerstattung für eine Kopforthese aufgrund fingierter Genehmigung.
Das LSG stellte in dem Urteil klar, dass die Beweislast für einen rechtzeitigen Zugang des Ablehnungsbescheides bei der KK liegt. Ein solcher konnte in dem zu entscheidenden Rechtsstreit seitens der KK nicht nachgewiesen werden. Der Kostenerstattungsanspruch wurde den Klägern aber dennoch nicht gewährt, denn sie durften im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung nicht mehr auf das Vorliegen eines Leistungsanspruchs vertrauen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bestehe kein Anspruch gegen die KK auf die Versorgung mit einer Kopforthese. Da die Kläger im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung anwaltlich vertreten gewesen seien, sei ihnen die Kenntnis bzw. die fahrlässige Unkenntnis des Anwalts von dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung zuzurechnen. (K-A)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/23, S. 146)
Die Klägerin erbringt Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere im Bereich Schulbegleitung. Wegen Corona konnte sie ihre Leistung nur eingeschränkt anbieten. Daher erhielt sie für die Monate Juni und Juli 2020 einen Zuschuss nach § 3 Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG).
Für die Berechnung der Zuschusshöhe ermittelte der beklagte Eingliederungshilfeträger zunächst den Monatsdurchschnitt und hiervon die Obergrenze des Zuschusses von 75 %. Von diesem 75 %-Betrag zog der Beklagte anschließend vorrangige Mittel i. S. d. § 4 SodEG (hier: Vergütung der tatsächlich erbrachten Eingliederungshilfeleistungen) ab.
Sowohl das SG Darmstadt als auch das Hessische LSG wiesen die Klage auf einen höheren Zuschuss ab (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 16.03.2022 – Az: L 4 SO 119/21, RdLh 3/2022, S. 116 ff.).
Die hiergegen eingelegte Revision hatte Erfolg. Das BSG (Urteil vom 17.05.2023 – Az: B 8 SO 6/22 R) schloss sich der Rechtsauffassung der Klägerin an, wonach die anderweitig zugeflossenen Mittel vom Monatsdurchschnitt und nicht vom Höchstbetrag des Zuschusses i. H. v. 75 % abzuziehen seien. Das SodEG verfolge eine Teilabsicherung, die je nach Situation durch vorrangige Zuflüsse ergänzt werden könne. (Ax)
Hinweis: Der Kompakt-Beitrag beruht auf dem Terminbericht des BSG. Eine ausführliche Besprechung des Urteils erfolgt im Rechtsdienst nach Veröffentlichung der Entscheidungsgründe.
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/23, S. 146f.)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/2023
Der Träger einer besonderen Wohnform (Kläger) hatte die beklagte Bewohnerin erfolglos gebeten, einer Anpassung des 2009/11 geschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrages (WBVG-Vertrag) zuzustimmen, um die Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) umzusetzen.
Das LG Berlin verurteilte die Beklagte zur Zustimmung und Nachzahlung rückständiger Entgelte (Urteil vom 15.03.2022 – Az: 6 O 111/21; RdLh 3/2022, S. 139 f.). Dem schloss sich das Kammergericht Berlin an (Beschluss vom 19.01.2023 – Az: 24 U 41/22). Die durch das BTHG eingeführte Trennung der Fachleistung der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen zum 01.01.2020 mache eine Anpassung der Verträge gem. § 313 BGB erforderlich. Die Beklagte sei deshalb zur Zustimmung verpflichtet. Das noch nicht abgeschlossene Gesamtplanverfahren stehe der Vertragsänderung entgegen.
Die von der Beklagten behauptete Unangemessenheit des Entgelts für Verpflegung und Material (z. B. Hygieneartikel, Küchenbedarf, Wasch- und Reinigungsmittel) wies das KG unter Hinweis auf die Darlegungs- und Beweislast der Beklagten zurück. Abgesehen davon sei das monatliche Entgelt für Verpflegung (147,83 Euro) und Material (88,69 Euro) „absolut angemessen“.
Zu beachten sei auch, dass der Unternehmer bei der Preisgestaltung einen Gewinn erwirtschaften dürfe. Es gehe nicht nur um eine reine Kostendeckung, so das KG. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/23, S. 98 - Mitgeteilt von Rechtsanwalt Dr. Martin Nanzka, Kanzlei Nanzka & Bödeker, Berlin, www. nanzka-boedeker.de.)
Zu entscheiden war, ob Pflegegeld gem. § 37 SGB XI gepfändet werden darf. Dabei ging es um das von dem pflegebedürftigen Sohn an die überschuldete Mutter weitergeleitete Pflegegeld. Der Verwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Mutter hatte die Pfändung beantragt.
Das AG Oldenburg (Beschluss vom 21.10.2021 – Az: 16 IN 25/21) und das LG Oldenburg (Beschluss vom 22.12.2021 – Az: 4 T 701/21) lehnten dies ab. Im Ergebnis bestätigte der BGH die Entscheidungen (Beschluss vom 20.10.2022 – Az: IX ZB 12/22). Das an die Pflegeperson weitergeleitete Pflegegeld sei unpfändbar gem. § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 BGB. Denn der Zweck des Pflegegeldes bestehe in dem Anreiz zur Erhaltung der Pflegebereitschaft und nicht darin, die Gläubiger der Pflegeperson zu befriedigen. Der pflegebedürftige Mensch werde mit dem Pflegegeld in die Lage versetzt, die Pflegeperson für ihren Einsatz zu belohnen. Dieses Interesse sei rechtlich schutzwürdig und gebiete es, nicht nur das an die pflegebedürftige Person gezahlte, sondern auch das weitergeleitete Pflegegeld von einer Pfändung auszuschließen. Anders als die Vorinstanzen lehnte der BGH es ab, die Unpfändbarkeit auf § 54 SGB I zu stützen. Das Pflegegeld sei nicht als vor der Pfändung geschützte Sozialleistung i. S. v. § 54 SGB I zu werten. Es bleibe nur im Kontext Unterhaltsansprüche unberücksichtigt, vgl. § 13 Abs. 6 S. 2 SGB XI. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/23, S. 97f.)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 1/2023
Im Streit stand die Weiterbewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens. Im Rahmen der Bedarfsermittlung erklärte der psychisch beeinträchtigte Kläger, es gebe nichts, was er nicht gut oder gar nicht könne. Gleichwohl wünsche er weiterhin Leistungen des ambulant betreuten Wohnens.
Daraufhin wurden die Leistungen eingestellt. Der beklagte Eingliederungshilfeträger begründete dies damit, dass mit Leistungen der Eingliederungshilfe nur diejenigen Leistungsberechtigten unterstützt würden, die „Interesse an ihrer Verselbstständigung“ hätten. Eine Fortsetzung der Leistungen sei daher erst möglich, wenn der Kläger seine Defizite erkennen und an ihnen arbeiten wolle.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Nach Auffassung des SG Reutlingen (Gerichtsbescheid vom 29.07.2022 – Az: S 5 SO 2374/21) besteht weiterhin ein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Der Beklagte verkenne, dass der Paradigmenwechsel im Recht der Eingliederungshilfe dem Leistungsberechtigten zwar mehr Mitsprachemöglichkeiten einräume, dies aber nicht bedeute, dass im Rahmen der Bedarfsermittlung keine anderen Informationsquellen als die Angaben des Leistungsberechtigten einbezogen werden müssten. Die Auffassung des Beklagten würde sonst dazu führen, dass Leistungsberechtigten, die ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht adäquat formulieren könnten, der bestehende Hilfebedarf abgesprochen würde. (Ax)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/23, S. 46)
Der nach dem SGB II Leistungsberechtigte (L.) wollte gegen einen Bescheid des Jobcenters Widerspruch einlegen und beantragte für die Unterstützung bei der Widerspruchsbegründung Beratungshilfe. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab, die Erinnerung (Rechtsbehelf gegen abgelehnte Beratungshilfe) blieb erfolglos. Das Beratungshilfegesetz schließe die Bewilligung von Beratungshilfe wegen der mutwilligen Rechtsverfolgung durch L. aus.
Daraufhin rügte L. mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG). Das BVerfG gab der Beschwerde statt (Beschluss vom 04.04.2022 – Az: 1 BvR 1370/21). Das GG gebiete bei der Durchsetzung von Rechten eine Gleichstellung von Unbemittelten mit solchen bemittelten Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Möglichkeiten entscheiden können, sich anwaltlich beraten zu lassen und hierfür auch die entstehenden Kosten abwägen. Zu prüfen sei auch, ob der zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwerfe und ob der Rechtssuchende über eigene Rechtskenntnisse verfüge.
Vorliegend fehlte es L. an Rechtskenntnissen. Zudem warf der Sachverhalt – Anrechnung von Betriebskostenguthaben auf die SGB II-Leistung – schwierige Fragen auf. Zur Klärung durfte L. nicht an das Jobcenter verwiesen werden, denn dieses hatte den Bescheid erlassen. Da L. konkrete Gründe genannt hatte, die für eine Rechtswidrigkeit des Bescheids sprachen, handelte es sich auch nicht um eine mutwillige Rechtsverfolgung, so das BVerfG. Im Ergebnis war daher Beratungshilfe zu gewähren. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 1/23, S. 46f.)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 4/2022
Die unter Betreuung stehende Klägerin hatte 2016 u. a. Wahn- und Halluzinationsvorstellungen. In diesem Zustand entsorgte sie die „verfluchte“ Einrichtung ihrer Wohnung. Als es ihr nach einem stationären Aufenthalt wieder besser ging, beantragte sie einen Zuschuss für eine Erstausstattung. Dies lehnte der beklagte Träger der Sozialhilfe ab, da die Klägerin einen Ergänzungsbedarf geltend mache, der aus dem Regelbedarf anzusparen sei.
Daraufhin erwarb der Sohn der Klägerin Einrichtungsgegenstände und gewährte ihr ein Darlehen i. H. d. Kaufpreises (1.800 Euro).
Das SG Freiburg (Urteil vom 23.07.2018 – Az: S 7 SO 1522/18) und das LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.07.2020 – Az: L 7 SO 3313/18; RdLh 1/2021, S. 27 f.) verurteilten den Beklagten, Kosten i. H. v. 771 Euro zu erstatten. Hinsichtlich der begehrten weiteren Kostenübernahme sei die Klage abzuweisen.
Dem folgte das BSG (Urteil vom 16.02.2022 – Az: B 8 SO 14/20 R): Der Klägerin stehe ein Anspruch gem. § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII zu, da außergewöhnliche Umstände durch einen von außen wirkenden Umstand (hier die psychische Krise der Klägerin), ein spezieller Bedarf sowie der nötige Kausalzusammenhang zwischen beidem gegeben seien. Ein bloßer Verschleiß, für den eine Erstausstattung nicht in Betracht komme, liege dagegen nicht vor.
Die Höhe der Kostenübernahme sei nicht zu beanstanden, da eine Pauschale zugrunde gelegt werden durfte, vgl. § 31 Abs. 3 SGB XII. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/22, S. 200)
Der 1991 geborene, zu 100 % schwerbehinderte und nahezu taubblinde Beklagte lebt auf der Grundlage eines Wohn- und Betreuungsvertrages (WBVG-Vertrag) seit 2010 in der von der Klägerin betriebenen Wohnform für Menschen mit Behinderung. Seit 2019 kam es fast täglich zu aggressiven Verhaltensauffälligkeiten des Beklagten (u. a. Schlagen, Beißen) gegenüber Mitbewohnern, Personal und Sachen. Daraufhin kündigte die Klägerin den WBVG-Vertrag und verlangte die Räumung und Herausgabe des Wohnraums.
Kündigung nur aus wichtigem Grund und bei Unzumutbarkeit
Das LG Rottweil wies die Klage mangels wirksamer Kündigung ab (Urteil vom 08.04.2022 – Az: 2 O 435/21). Grundsätzlich könnten WBVG-Verträge nur aus wichtigem Grund gekündigt werden, und das auch nur, sofern die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses unzumutbar sei, vgl. § 12 Abs. 1 Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG; vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 28.05.2020 – Az: 1 U 156/19 und LG Berlin, Urteil vom 06.05.2020 – Az: 65 S 264/19; dazu RdLh 4/2020, S. 199 f.).
Vorliegend spreche gegen die Unzumutbarkeit vor allem, dass der Klägerin schon bei Vertragsabschluss fremdaggressive Verhaltensauffälligkeiten des Beklagten in den Grundzügen bekannt gewesen seien. Deshalb habe die Klägerin ihre Leistungen an das Verhalten des Beklagten anzupassen. Mangels „gesonderter Vereinbarung“ mit dem Beklagten sei diese Pflicht zur Anpassung auch nicht wirksam ausgeschlossen worden, vgl. § 8 Abs. 4 WBVG. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 4/22, S. 201)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 3/2022
In dem Rechtsstreit verlangte das klagende Pflegeheim (SGB XI) von der Beklagten rückständige Heimkosten und die Räumung des Zimmers, in dem der Sohn der Beklagten lebt. Seit März 2020 hielt sich dieser aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus monatelang nicht mehr in der Einrichtung auf, ohne jedoch den Schlüssel zurückzugeben bzw. das Zimmer zu räumen. Die Beklagte zahlte in dieser Zeit lediglich ein reduziertes Entgelt; der Kläger kündigte letztlich den WBVG-Vertrag und verlangte Räumung.
Das LG Amberg verurteilte die Beklagte unter Berücksichtigung ersparter Aufwendungen zur Zahlung und Räumung (Urteil vom 30.03.2021 – Az: 12 O 725/20). Die Berufung verwarf das OLG Nürnberg als unzulässig (Beschluss vom 11.10.2021 – Az: 4 U 1292/21).
Um gegen den OLG-Beschluss Nichtzulassungsbeschwerde einlegen zu können, beantragte die Beklagte die Beiordnung eines Notanwalts gem. § 78b Abs. 1 Zivilprozessordnung.
Der BGH lehnte den Antrag ab, da die Rechtsverfolgung aussichtslos sei (Beschluss vom 28.04.2022 – Az: III ZR 240/21). Denn trotz der Beschränkungen habe der Kläger die zentralen (Pflege-)Leistungen weiter erbracht. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe das Entgelt deshalb nicht gem. § 10 WBVG gekürzt werden dürfen. Mangels schwerwiegender Störung der Geschäftsgrundlage sei eine reduzierte Zahlung des Entgelts auch nicht nach § 313 Bürgerliches Gesetzbuch gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund sei die Kündigung wirksam und müsse das Zimmer an den Kläger herausgegeben werden.
Hinweis: Die gleiche Rechtslage dürfte für das Wohnen in besonderen Wohnformen gelten. (Sel)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/22, S. 151)
Der Kläger arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Er hat wegen anderweitigen Einkommens keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, weshalb ihm der Mehrbedarf für das Mittagessen in der WfbM nach § 42b Abs. 2 SGB XII nicht zusteht.
Daher beantragte er die Übernahme der ihm für das Mittagessen entstehenden Kosten als Leistung der Eingliederungshilfe. Dies lehnte der Eingliederungshilfeträger ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem SG Heilbronn und dem LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.03.2022 – Az: L 7 SO 4143/20) keinen Erfolg (vgl. hierzu die Besprechung der Parallelentscheidung des SG Heilbronn, Urteil vom 14.12.2021 – Az: S 2 SO 1228/20, RdLh 2/2022, S. 80 f.).
Das LSG führte aus, das Mittagessen in der WfbM sei seit der BTHG-Reform kein Bestandteil der Eingliederungshilfeleistung, soweit die Kosten des Mittagessens die Höhe des Mehrbedarfs nach § 42b Abs. 2 S. 3 SGB XII nicht überstiegen. Nur soweit die Kosten für die Herstellung und Bereitstellung hierdurch nicht gedeckt werden könnten, seien sie der Eingliederungshilfe zuzuordnen (§ 113 Abs. 4 SGB IX). Das Mittagessen werde daher aus zwei Quellen finanziert, wobei der Anspruch nach § 42b SGB XII als Spezialregelung vorgehe. Da die von der WfbM für das Mittagessen in Rechnung gestellten Kosten vorliegend die Höhe des Mehrbedarfs nicht überschritten, komme ein Rückgriff auf § 113 Abs. 4 SGB IX nicht in Betracht. Ein Verstoß gegen Art. 3 GG sei darin nicht zu sehen.
Gegen die Entscheidung ist Revision beim BSG anhängig (Az: B 8 SO 5/22 R). (Ax)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 3/22, S. 149)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/2022
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte darüber zu entscheiden, ob die Nichtberücksichtigung einer Bewerberin bei der Besetzung einer Stelle zu einem Anspruch auf Entschädigung nach § 15 AGG führt. Eine zur Zeit des Bewerbungsverfahrens ca. 50jährige Frau hatte sich auf eine Stellenausschreibung bei einem Assistenzdienst (Beklagte) beworben, der Assistenz für Menschen mit Behinderung in verschiedenen Lebensbereichen (z. B. für Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 78 SGB IX) anbietet.
BAG ruft EuGH an
In der Stellenausschreibung wurde für eine 28jährige Studentin eine weibliche Assistenz „am besten zwischen 18 und 30 Jahre alt“ gesucht. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie sei im Bewerbungsverfahren wegen ihres Alters benachteiligt worden. Nach Ansicht der Beklagten ist das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX zu berücksichtigen. Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das BAG hat vor seiner Entscheidung den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um eine Vorabentscheidung ersucht und das Verfahren so lange ausgesetzt (Beschluss vom 24.02.2022 – Az: 8 AZR 208/21 (A).
Die Entscheidung hänge von der Frage ab, ob unionsrechtliche Vorschriften (Art. 2, 4, 6 und 7) der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie (2000/78/EG) im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und von Art 19 UN-Behindertenrechtskonvention dahin ausgelegt werden können, dass hier eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters gerechtfertigt werden könne. (Sch)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/22, S. 97)
Die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung („aG“) kommt auch dann in Betracht, wenn das körperliche Gehvermögen selbst nicht beeinträchtigt ist, sondern die Einschränkung der Mobilität aus einer geistigen Behinderung folgt.
So verhielt es sich im Fall der 2001 geborenen, kleinwüchsigen Klägerin mit einem festgestellten Grad der Behinderung von 100. Bedingt durch ihre globale Entwicklungsstörung bei atypischem Autismus verweigert sie mehrmals täglich die Fortbewegung, wirft sich auf den Boden und ist nur unter größter Anstrengung ihrer Begleitperson zum Aufstehen zu bewegen.
Das SG Münster hielt die Voraussetzungen des § 229 Abs. 3 SGB IX aufgrund dieser Sachlage für erfüllt (Urteil vom 17.11.2021 – Az: S 25 SB 314/20). Es stellte allerdings heraus, dass auch nach der Neuregelung der Vorschrift im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (vormals: § 146 Abs. 3 SGB IX) grundsätzlich eine restriktive Auslegung geboten sei. So müsse bei Vorliegen einer geistigen Behinderung eine dauerhafte und erhebliche Beeinträchtigung bestehen, die eine Rollstuhlnutzung auch auf kurzen Wegstrecken erforderlich mache.
Bei der Klägerin sei dies angesichts ihres unvorhersehbaren Verhaltens zum Ausschluss von Eigen- oder Fremdgefährdungen im Stadtverkehr der Fall (vgl. auch „Zum Merkzeichen „aG“ bei Autismus“, RdLh 2/2020, S. 100 f.). (Me)
(Rechtsdienst der Lebenshilfe: Ausgabe 2/22, S. 96)
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