Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung
Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung können psychisch krank werden. Sie haben sogar ein drei- bis viermal höheres Erkrankungsrisiko als die Durchschnittsbevölkerung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Dennoch werden immer noch oft Verhaltensauffälligkeiten auf die kognitive Beeinträchtigung zurückgeführt. Dass sie auch psychisch bedingt sein können, findet keine Beachtung.
Wann benötigen Menschen mit Behinderung Psychotherapie?
Es ist für Ärzt*innen und Therapeut*innen nicht immer ganz einfach, eine psychische Erkrankung zu erkennen und entsprechende Hilfestellung zu geben. Anhaltend aggressives Verhalten kann zum Beispiel auf eine psychische Störung hindeuten – muss es aber nicht. Die Verhaltensauffälligkeiten können auch ein Zeichen körperlicher Schmerzen sein, die der Betroffene nicht zuordnen und benennen kann. Hier muss genau hingeschaut werden. Wenn klar ist, dass eine körperliche Ursache der Symptome ausscheidet, ist für die Diagnosestellung mehr Zeit und Einfühlungsvermögen nötig. Denn Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung fällt es oft nicht leicht, ihre Beschwerden zu formulieren und Verhaltensmuster zu reflektieren.
Therapie muss angepasst werden
Das ist auch eine Herausforderung bei der Therapie: Denn psychotherapeutische Behandlungen basieren häufig auf Sprache. Es wird über existierende Probleme geredet, Lösungsmöglichkeiten werden im Gespräch erarbeitet. Das erfordert ein hohes Maß an Kommunikations- und Konzentrationsfähigkeit, das Menschen mit geistiger Behinderung manchmal fehlt. Bei der Behandlung müssen deshalb Wege gefunden werden, eventuelle sprachliche Barrieren zu überwinden. Eine Hilfestellung können hier zum Beispiel Piktogramme, aber auch die Einbeziehung von Bezugspersonen geben (wie etwa bei der Begleitung im Krankenhaus).
Überblick über zusätzliche Leistungen
Als ersten Schritt zur Verbesserung der Versorgung sieht die Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zusätzliche Leistungen für Menschen mit geistiger Behinderung vor. Voraussetzung ist immer, dass eine sogenannte Intelligenzstörung festgestellt wurde. Und zwar nach dem Abschnitt F70-F79 nach der ICD 10 (§ 1 Absatz 4 Satz 5 Psychotherapie-Richtlinie). Die ICD ist ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenes, weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen.
Die Therapeut*innen können auf Wunsch oder mit Einwilligung der Patient*innen Bezugspersonen aus deren sozialem Umfeld in die Behandlung einbeziehen (§ 9 Psychotherapie-Richtlinie). Zum sozialen Umfeld gehören auch die professionellen Unterstützungssysteme. Das heißt, Bezugspersonen können beispielsweise auch Mitarbeitende von Leistungserbringern der Eingliederungshilfe sein (Tragende Gründe zum Beschluss des G-BA vom 22.11.2019, S. 4 und vom 18.10.2018, S. 3).
Therapeut*innen können in zehn statt in sechs 25-minütigen Gesprächen klären, ob die Symptome den Verdacht auf eine psychische Erkrankung begründen und eine weitergehende psychotherapeutische Behandlung erfordern (§ 11 Absatz 5 Satz 2 Psychotherapie-Richtlinie). Die Gespräche werden im Rahmen der sogenannten psychotherapeutischen Sprechstunde geführt. Dieses Angebot kann entweder durch die Patient*innen selbst oder, mit ihrer Einwilligung, anteilig durch eine Bezugsperson genutzt werden (§ 11 Absatz 6 Satz 3 Psychotherapie-Richtlinie). Um einen Termin zu bekommen, kann man sich an die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen wenden. Sie müssen einen zeitnahen Termin vermitteln. Auch die Psychotherapeutenkammern helfen bei der Suche (die jeweiligen Links finden Sie unten auf dieser Seite).
Wenn klar ist, dass ein Behandlungsbedarf besteht, können sich Therapeut*innen mehr Zeit nehmen, um eine genaue Diagnose zu stellen und sich ein geeignetes Therapieverfahren zu überlegen. Das erfolgt in den sogenannten probatorischen Sitzungen. Für Menschen mit geistiger Behinderung stehen bis zu sechs statt der üblichen zwei bis vier Sitzungen à 50 Minuten zur Verfügung (§ 12 Absatz 3 Satz 5 Psychotherapie-Richtlinie). In dieser Zeit können Therapeut*innen und Patient*innen außerdem überprüfen, ob sie persönlich zusammenpassen. Die Einbeziehung von Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld ist natürlich auch hier möglich (§ 12 Absatz 4 Satz 6 Psychotherapie-Richtlinie).
Grundsätzlich ist zum Abschluss einer Therapie vorgesehen, dass Therapeut*innen mit ihren Patient*innen über zukünftige Entwicklungen, anstehende Aufgaben und mögliche Schwierigkeiten sprechen. Dabei wird gemeinsam überlegt, wie man am besten mit diesen herausfordernden Ereignissen umgeht, um mögliche Rückfälle zu vermeiden. Auch hierfür stehen Menschen mit einer geistigen Behinderung im Falle der Hinzuziehung von Bezugspersonen in Abhängigkeit von der Gesamtbehandlungsdauer zwei bzw. vier Stunden mehr zur Verfügung (§ 14 Absatz 3 Satz 3 Psychotherapie-Richtlinie). Diese Zeit geht allerdings von der Gesamtbehandlungszeit ab (§ 14 Absatz 3 Satz 4 Psychotherapie-Richtlinie).
Allerdings fehlt es immer noch an Therapeut*innen, die die erforderlichen Kenntnisse im Umgang mit kognitiv beeinträchtigten Menschen haben und bereit sind, die Behandlung zu übernehmen. Erfreulich ist daher, dass seit dem 1. September 2020 in § 7 Absatz 1 Psychotherapeutengesetz klargestellt wurde, dass bei der Kenntnisvermittlung im Rahmen des Psychotherapiestudiums die Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden müssen. Auch in der Approbationsordnung für Psychotherapeut*innen, die die Inhalte des Studiums konkreter regelt, ist die Therapie von Menschen mit Behinderung jetzt berücksichtigt (Anlage 2 Nummer 3 Satz 2a und Nummer 4 Satz 2 b).
Außerdem gibt es einen Weg den Kreis der möglichen Therapeut*innen zu erweitern: Wenn Versicherte nachweisen können, dass sie trotz erheblicher Bemühungen keinen Therapieplatz gefunden haben und ein dringender Behandlungsbedarf besteht, übernimmt die Krankenkasse ausnahmsweise auch die Kosten für eine Behandlung durch Psychotherapeut*innen ohne Zulassung. Eine Approbation der Therapeut*in ist aber in jedem Fall erforderlich (Bundessozialgericht, Urteil vom 13.12.2016 – Az: B 1 KR 4/16 R).
Weitergehende Informationen zum Thema: Psychotherapie für Menschen mit Behinderung
Was ist der Gemeinsame Bundesausschuss?
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) setzt sich aus Vertreter*innen der Kassenärzt*innen, der Kassenzahnärzt*innen, der Krankenhäuser und der gesetzlichen Krankenkassen zusammen. Er berät und beschließt unter Beteiligung von Patientenvertreter*innen untergesetzliche Vorgaben, die bei der Gewährung von Gesundheitsleistungen (etwa Hilfsmittel oder Heilmittel) zu beachten sind. Oft umreißt das Gesetz die einzelnen Ansprüche der Krankenversicherten nur grob. Die Einzelheiten müssen dann in Richtlinien des G-BA geregelt werden. Weitere Informationen zur Struktur und den Aufgaben des G-BA bietet ein Erklär-Film.
Was bedeutet ICD?
ICD ist die Abkürzung für “International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”. Übersetzt heißt das: “Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme”. Die ICD ist ein von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenes weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Jeder Diagnose wird dabei ein Buchstaben-Zahlencode zugeordnet. Eine leichte Intelligenzminderung hat beispielsweise den Zahlencode F 70.
Weitere Informationen zum Thema Psychotherapie für Menschen mit Behinderung
- Kontaktdaten der Terminservicestellen Ein Angebot der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
- Übersicht über die Psychotherapeutenkammern Ein Angebot der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV).
- Broschüre „Barrierefreie Psychotherapie" Möglichkeiten und Grenzen der psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung.
- Materialien zur seelischen Gesundheit von Menschen mit Behinderung und Behandlungsangebote Ein Angebot der DGSGB.