Teilhabe am Arbeitsleben: Auf dem Weg zu inklusiver Arbeit und gerechter Entlohnung
Die Lebenshilfe fordert eine Reform der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Ziel ist die langfristige Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes und eine gerechte Entlohnung von Menschen mit Behinderung in Werkstätten. Neun Kriterien sollen bei der Reform Beachtung finden.
Hintergrund zum Positionspapier zur Teilhabe am Arbeitsleben
Die Arbeitswelt in Deutschland muss inklusiver werden. Das ist keine neue Forderung. So hat der Fachausschuss der Vereinten Nationen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bereits 2015 den exklusiven Arbeitsmarkt in Deutschland und das bestehende – wenig durchlässige – System der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) gerügt. Dennoch hat sich die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderung bisher wenig gebessert. Der Fachausschuss der Vereinten Nationen hat 2023 dann erneut die Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderung in Deutschland gerügt.
Und auch die Kritik an der Bezahlung in den WfbM gibt es seit vielen Jahren. Viele Werkstattbeschäftigte empfinden das Entgeltsystem als ungerecht. Der Mindestlohn gilt nicht für sie nicht, weshalb viele trotz Vollzeitarbeit auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.
Diese Kritik hat der 19. Bundestag aufgegriffen. Er hat die Bundesregierung aufgefordert, eine Studie in Auftrag zu geben, um ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfestes Entgeltsystem in WfbM zu entwickeln und um zu untersuchen, wie Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessert werden können. Der erste Zwischenbericht dieser Studie liegt seit Oktober 2021, der zweite Zwischenbericht seit September 2022 vor. Der Abschlussbericht wurde im September 2023 veröffentlicht.
- Erster Zwischenbericht des BMAS Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
- Erster Zwischen-Bericht in Leichter Sprache Untersuchungen über die Bezahlung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ein Angebot des BMAS.
- Zweiter Zwischenbericht des BMAS Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
- Zweiter Zwischen-Bericht in Leichter Sprache des BMAS Untersuchungen über die Bezahlung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ein Angebot des BMAS.
- Abschlussbericht des BMAS Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
- Abschlussbericht in Leichter Sprache Untersuchungen über die Bezahlung in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ein Angebot des BMAS.
Der Weg zum Positionspapier
In einem umfangreichen einjährigen Diskussionsprozess haben die Gremien der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. eine Positionierung zur Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt.
Diskussionsprozess der Lebenshilfe
Seit September 2021 haben sich in einem einjährigen Prozess die Gremien der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. zur Weiterentwicklung des Entgeltsystems in WfbM und zur Zukunft des inklusiven Arbeitsmarktes ausgetauscht, um schließlich eine Positionierung zu verabschieden. Bundesvorstand und Bundeskammer haben in insgesamt sechs Sitzungen gemeinsam zum Thema beraten. Beteiligt waren außerdem
- der Rat behinderter Menschen,
- die Beiräte „Wissenschaft und Praxis“ und „Leistungsanbieter“
- sowie der Rat der Eltern und Angehörigen.
Überdies fanden zwei eintägigen Fachgespräche zum innerverbandlichen Austausch über alle Ebenen des Vereins statt. Schließlich wurde das Positionspapier nach dritter Lesung und langer, intensiver Diskussion am 16. September 2022 von Bundesvorstand und Bundeskammer verabschiedet.
Im September 2021 wurde durch den Bundesvorstand und die Bundeskammer der Rahmen für den Prozess zur Positionsentwicklung im Bereich Teilhabe am Arbeitsleben und insbesondere in Bezug auf die künftige Entlohnung in WfbM beschlossen. Bundesvorsand und Bundeskammer beschäftigten sich mehrfach in verschiedenen Formaten mit der Weiterentwicklung des inklusiven Arbeitsmarktes und der Entgeltsituation in WfbM. Erklärtes Ziel der Gremien war es, bis Mitte 2022 eine Position der Bundesvereinigung Lebenshilfe zu bestimmen, die in den politischen Prozess eingespeist werden kann.
Im März 2022 wurde eine gemeinsame Klausurtagung zur Beratung angesetzt. Zur fachlichen Vorbereitung der Klausur fand im Dezember 2021 ein Fachgespräch mit
- Expert*innen aus den Landesverbänden,
- Vertreter*innen aus dem Rat behinderter Menschen,
- dem Rat der Eltern und Angehörigen
- und den Mitgliedern des Bundesvorstands und der Bundeskammer statt.
Der Rat behinderter Menschen setzte sich im Februar ebenfalls in einer Sondersitzung mit der Entgeltfrage auseinander, um eine Position zu formulieren. Die Ergebnisse des Fachgesprächs und der Ratssitzung wurden im Februar ein erstes Mal diskutiert und auf der zweitägigen Klausur intensiv beraten.
Nachdem so die Basis für einen ersten Entwurf einer Positionierung gelegt wurde, fand im Mai eine weitere Beratung von Bundesvorstand und Bundeskammer statt und der Entwurf wurde seitens der Bundesgeschäftsstelle weiterbearbeitet. In der Zwischenzeit wurde auch der verbandliche Austausch zum Thema weitergeführt. Ebenfalls im Mai hat der Rat der Eltern und Angehörigen sich zu den Themen beraten. In die überarbeitete Fassung des Positionsentwurfes sind weiterhin auch die Erkenntnisses aus dem im Juni 2022 durchgeführten digitalen Fachtag eingeflossen.
Überdies haben die beiden Beiräte „Wissenschaft und Praxis“ und „Leistungserbringer“ im Juli 2022 in zwei getrennten Sitzungen einen Online-Austausch zum Thema „Inklusiver Arbeitsmarkt und Entlohnung in WfbM – Wie positioniert sich die Lebenshilfe?“ durchgeführt. Auch die sich daraus ergebenden Erkenntnisse wurden bei der Erstellung berücksichtigt.
Ziele und Forderungen der Lebenshilfe
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. fordert, dass bei der anstehenden Reform der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zwei große Ziele verfolgt werden:
- Inklusiver Arbeitsmarkt: Die langfristige Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes. Die Leistungen sollen den Bedürfnissen und Bedarfen von Menschen mit Behinderung gerecht werden und Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf stärker miteinbeziehen. Umfassende Teilhabe und Inklusion im Sinne der UN-BRK müssen gewährleistet werden.
- Gerechte Entlohnung: Eine gerechte Entlohnung für die Arbeit von Menschen mit Behinderung, so dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können und auch im Alter abgesichert sind.
Zur Erreichung dieser Ziele sind aus Sicht der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. neun Kriterien bei den Reformen zu beachten. Diese sind im Folgenden in Kurzform aufgelistet:
Präambel: Inklusion
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. fordert im Einklang mit der UN-BRK die Schaffung und Weiterentwicklung hin zu einem inklusiven und frei zugänglichen Arbeitsmarkt.
- Personenzentrierung: Personenzentrierung und Selbstbestimmung müssen auch für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gelten. Für Menschen mit Behinderung darf es keinen Unterschied machen, welchen Ort sie für die Leistungserbringung wählen. Sie sollen frei darin sein, ihre Teilhabeleistungen nach ihrem jeweiligen Bedarf und eigenen Wünschen auch in inklusiven Settings und unabhängig von der Beschäftigung in einer WfbM zu erhalten.
- Arbeitsrechte: Arbeitende Menschen, auch wenn sie behinderungsbedingt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB IX (LTA) beziehen, sollten die gleichen Arbeitnehmer*innenrechte haben, wie Menschen ohne Behinderung. Dies sollte unabhängig davon gelten, ob ihr Arbeitsplatz ein inklusiver und ggf. geförderter Arbeitsplatz ist oder nicht.
- Anspruch auf einen Arbeitsplatz: Menschen, die auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angewiesen sind, sollen auch in Zukunft ihren Anspruch auf einen solchen Arbeitsplatz behalten. Wenn sie nicht selbst einen Arbeitsplatz finden, haben wohnortnahe WfbM oder andere Anbieter ihnen einen Arbeitsplatz anzubieten. Die aktuelle Arbeitsplatzgarantie, welche in WfbM besteht, gilt es beizubehalten und weiterzuentwickeln.
- Kein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit: Auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf müssen Zugang zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben haben. Das Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit für den Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben soll künftig entfallen und die Leistungen sollen diskriminierungsfrei allen Menschen mit Behinderung offenstehen.
- Die Kompetenz von Werkstätten nutzen: WfbM erfüllen wichtige Funktionen, wie das Bereitstellen von Arbeitsplätzen, die Unterstützung bei der Arbeit, berufliche Rehabilitation, Bildung und soziale Teilhabe. Alle fünf Funktionen sollen in einer personenzentrierten, flexiblen und inklusiven Struktur erhalten bleiben und sollen durch WfbM als Kompetenzzentren und inklusiven Leistungsanbietern bereitgestellt werden.
- Bildung und Ausbildung stärken: Berufsorientierung, arbeitsplatzbezogene berufliche Bildung sowie berufliche Fort- und Weiterbildung sind wichtige Voraussetzungen für selbstbestimmte Teilhabe am Arbeitsleben. Hierfür braucht es bspw. Qualifizierung auf konkrete Arbeitsplätze und inklusive Berufsschulen, die anerkannte Berufsabschlüsse mit verschiedenen Modulen anbieten.
- Mehr inklusive Arbeitsplätze: Der allgemeine Arbeitsmarkt in Deutschland ist nicht inklusiv. Die Zahl an inklusiven, barrierefreien Arbeitsplätzen in allen Unternehmen muss ausgebaut werden. Die Lebenshilfe sieht neben der öffentlichen Hand als Arbeitgeber vor allem den sozialen Sektor und auch die Lebenshilfe-Vereine und -Leistungserbringer selbst in der Pflicht, als Vorbild und Vorreiter*in voranzugehen und verstärkt Arbeitgeber*in für Menschen mit Behinderung und insbesondere aus WfbM zu werden.
- Unabhängigkeit von Grundsicherungsleistungen: Knapp ein Drittel der Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind heute auf ergänzende Grundsicherung angewiesen. Ein neues Entgeltsystem muss so ausgestaltet sein, dass es Menschen mit Behinderung unabhängig von existenzsichernden Leistungen macht.
- Finanzielle Sicherheit auch im Alter: Menschen mit Behinderung sollten auch im Alter unabhängig von existenzsichernden Leistungen leben können. Eine angemessene Alterssicherung ist unverzichtbar. Der rentenrechtliche Status quo ist somit im Rahmen der künftigen Reformen ein unbedingt aufrechtzuerhaltender Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung.
Modelle zur Weiterentwicklung des WfbM-Entgelts
Zur Weiterentwicklung des Entgeltsystems in WfbM werden aktuell verschiedene Modelle diskutiert. Die folgenden vier Modelle (in Kurzfassung) wurden von der Lebenshilfe beraten und anhand der Kriterien überprüft und bewertet.
Basisgeld
Werkstatträte Deutschland haben ein eigenes Konzept für eine gerechte Entlohnung in der WfbM entwickelt – das Basisgeld in WfbM. Menschen mit einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung erhalten eine Geldleistung in Höhe von 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoentgelts von Arbeitnehmer*innen in Deutschland. Zusätzlich werden Grundbetrag und Steigerungsbetrag ausgezahlt.
Einschätzung: Die Lebenshilfe begrüßt den Vorschlag grundsätzlich. Auch der Rat behinderter Menschen der Lebenshilfe findet den Vorschlag gut.
Subventionierter Mindest-/ Tariflohn
Das Werkstatt Entgelt der Beschäftigten soll sich am gesetzlichen Mindest- bzw. Tariflohn orientieren.
Einschätzung: Die Lebenshilfe findet, dass dieses Modell die Arbeit von Menschen mit Behinderung gerecht und angemessen entlohnen könnte und anderseits einen fließenden und flexiblen Wechsel zwischen unterstützter Arbeit und Arbeit ohne Unterstützung erreichen kann. Die Herausforderungen könnten hier bei der Finanzierung und der Umsetzung der Personenzentrierung von Leistungen liegen.
Bedingtes Grundeinkommen für Menschen mit Behinderung
Das bedingte Grundeinkommen ist eine Lohnersatzleistung, welche unabhängig von den geleisteten Stunden auch bei Teilzeitmodellen gezahlt werden würde. Die Höhe des bedingten Grundeinkommens sollte knapp oberhalb der Grundsicherung liegen.
Einschätzung: Die Lebenshilfe sieht in diesem Modell eine angemessene und begrüßenswerte Weiterentwicklung der aktuellen Entlohnung in WfbM. Der Vorschlag wäre auch anschlussfähig an die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf ein Bürgergeld.
Erhöhung des Arbeitsförderungsgeldes und Anrechnungsfreiheit der WfbM-Entgelte
Der Vorschlag sieht eine Erhöhung des Arbeitsförderungsgeldes sowie eine 100-prozentige Anrechnungsfreiheit der WfbM-Entgelte bei der Grundsicherung vor. WfbM-Beschäftigte hätten so unmittelbar mehr Geld zum Lebensunterhalt zur Verfügung.
Einschätzung: Dieser Vorschlag würde keine Grundsicherungsfreiheit für Menschen mit Behinderung bedeuten. Außerdem würde das Modell keinen Beitrag zu einer inklusiveren Arbeitswelt leisten.
Weitere Links zur Teilhabe am Arbeitsleben
- Teilhabe am Arbeitsleben Das Positionspapier und mehr in Leichter Sprache.
- Alle Menschen haben ein Recht auf Arbeit Gemeinsam schaffen wir mehr Teilhabe am Arbeits-Leben. Forderungen vom Paritätischen in Leichter Sprache.
- Vorschläge für ein zukunftsfähiges Entgeltsystem Ein Angebot der BAG WfbM.
- Erfurter Erklärung für einen inklusiven Arbeitsmarkt 2030 Erfurter Erklärung der Beauftragten von Bund und Ländern für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
- Recht auf Teilhabe In "Recht auf Teilhabe" klären wir ausführlich über Rechte und Sozialleistungen für Menschen mit Behinderung auf.