1980er Jahre – Normalisierung und Integration
Alle Menschen mit geistiger Behinderung sollen ein Leben „so normal wie möglich“ führen können.
Zur Normalisierung, für die sich die Lebenshilfe in der 1980er Jahren stark macht, gehört der Ausbau der Integration behinderter Menschen in Schule, Arbeitswelt und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Kultur, Sport, Religiosität und Freizeit eröffnen Menschen mit geistiger Behinderung neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Gegen die sogenannte „praktische Ethik“, die sich für die Tötung behinderter Babys ausspricht, verteidigt die Lebenshilfe Menschenwürde und Lebensrecht ausnahmslos für alle – also auch für alle behinderte – Menschen. Nach dem Fall der Mauer können sich auch in den neuen Bundesländern Orts- und Kreisvereinigungen der Lebenshilfe bilden und ein Netz der Hilfen für behinderte Menschen knüpfen.
"Es ist normal, verschieden zu sein“.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker
Beiträge zu den 1980er Jahren
Der Mensch mit einer geistigen Behinderung ist ein Mitbürger mit uneingeschränkten Rechten auf ein normales Leben in der Gesellschaft.
Das ist das Leitbild des in den 1960er-Jahren in Dänemark, Schweden und Kanada u.a. von Bengt Nirje entwickelten Prinzips der Normalisierung. Als Reformidee hat sie auch in Deutschland reiche Früchte getragen. Aus der Idee der Normalisierung sind alle weiteren modernen Leitbilder der Behindertenhilfe abgeleitet, wie sie die Arbeit der Lebenshilfe prägen: Integration, Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion.
Normalisierung bedeutet, ein Leben zu führen so normal wie möglich. Die Hilfen sind ausgerichtet auf die alltäglichen Lebensbedingungen. Das Konzept der Normalisierung wendet sich gegen das Leben in den Großeinrichtungen. Für die Lebenshilfe ergab sich daraus die Förderung kleinerer, gemeindenaher Wohneinrichtungen und regionaler Hilfe im Lebensumfeld der Betroffenen. Sie sollen an der Ausgestaltung der Angebote beteiligt werden.
In Hamburg fand 1985 der erste Europäische Kongress der Internationalen Liga zum Thema Normalisierung statt. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe gab als Ausrichter der Tagung einen wichtigen Impuls. Beteiligt war auch Prof. Walter Thimm (1936–2006), der über das Normalisierungsprinzip wegweisende Bücher veröffentlichte. Sie hatten maßgeblichen Einfluss auf die Enthospitalisierung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung aus Großeinrichtungen sowie die Eingliederung behinderter Menschen aller Altersstufen in die Gesellschaft.
Stichwort: Normalisierung
Zunächst bedeutet Normalisierung, einen Tagesablauf wie alle anderen zu haben: Aufstehen, Waschen, Anziehen, zur Schule oder zur Arbeit gehen, Mahlzeiten einnehmen, Freizeit.
Normalisierung bezieht sich auch auf den Jahres- und Lebenslauf. Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit ist normal. Die Umwelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung muss ihren Bedürfnissen gemäß gestaltet werden. Ihre Wünsche werden so weit wie möglich respektiert. Normalisierung bedeutet auch, dass beide Geschlechter zusammenleben.
Das Normalisierungsprinzip wurde jedoch auch missverstanden als Erziehung zur Unauffälligkeit. Die Förderung lebenspraktischer Fähigkeiten und einfacher Umgangsformen sollte zur Angleichung an die „Normalen“ beitragen.
Dagegen steht der Anspruch der Reformer, die Individualität und Besonderheit jedes Menschen mit geistiger Behinderung im Alltag zu achten und ein Leben zu fördern, wie es für alle Bürgerinnen und Bürgern eines Landes normal ist.
„Ich wünsche mir, dass wir in unserer Gesellschaft mehr anerkannt und geachtet werden und man uns so annimmt, wie wir sind. Wir sind alle sehr verschieden, jeder von uns hat auch etwas Besonderes an sich.“
Michael Schüfer, Mitglied im Beirat Arbeit und Wohnen der Lebenshilfe
Von Anfang an setzte sich die Lebenshilfe für die soziale Integration von Menschen mit geistiger Behinderung ein.
Soziale Integration – das bedeutete für die noch junge Lebenshilfe zunächst das Aufwachsen in der Familie, da geistig behinderte Kinder von den bestehenden allgemeinen Institutionen ausgeschlossen waren. Es wurden Sondereinrichtungen ins Leben gerufen. In den 1980er-Jahren strebte die Lebenshilfe den nächsten Schritt an: die Einbeziehung dort, wo auch Menschen ohne Behinderung leben, lernen, wohnen und arbeiten.
Im Schulbereich hieß das neue Motto: „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“. Besondere Impulse erhielt die Forderung nach Integration z.B. durch die Schaffung von Begegnungen behinderter und nichtbehinderter Menschen – nach dem Motto „so viel Integration wie möglich und so viel besondere Förderung wie nötig“.
Parallel formulierten Eltern und Fachleute neue Leitbilder. Menschen mit geistiger Behinderung sollten zwischen verschiedenen Lern- und Lebensorten sowie Hilfekonzepten wählen können. Seitdem ergänzen sich stationäre, teilstationäre und ambulante Hilfsangebote.
Jüngste Konzepte der Inklusion gehen noch einen Schritt weiter: Behinderte Kinder sollen von Geburt an in sozialen Netzwerken wie Nachbarschaft und Vereinen aufwachsen und dort die Hilfe bekommen, die sie gebrauchen. Spezielle Angebote wie die integrative Schule wären dem Gemeinsamen Leben und Lernen nachgeordnet. SchülerInnen mit geistiger Behinderung würden in der zuständigen allgemeinen Schule von SonderpädagogInnen unterrichtet werden.
Diesen Initiativen liegen vor allem folgende Erkenntnisse zugrunde:
Schutzgedanke: Nachbarn, Arbeitskollegen und Vereinsmitglieder schützen Menschen mit geistiger Behinderung am besten vor Anfeindungen.
Es ist normal, verschieden zu sein: Kinder, die mit behinderten Kindern aufwachsen, werden auch als Erwachsene keine Scheu im Umgang mit ihnen haben.
Teilhabe: Die Grundlagen des Miteinanders in der Gesellschaft sollten auch Menschen mit geistiger Behinderung zugänglich gemacht werden.
Ausblick: Beispiel Integrative Grundschule Gießen
1998 eröffnete die Lebenshilfe in Gießen ihre erste integrative Grundschule: Zehn Kinder mit Behinderung aller Schweregrade und 28 nichtbehinderte Abc-Schützen lernen zusammen. Lehrer, Sozialpädagogen, Praktikanten und Zivildienstleistende fördern die Schüler entsprechend ihren individuellen Fähigkeiten in der Kleingruppe oder allein. Zum Programm gehören auch das Erforschen der Natur, Theater und Musik. Die auf sechs Jahre angelegte Einrichtung lässt mehr Zeit, sich für die richtige weiterführende Schule zu entscheiden.
Bitte lesen Sie dazu auch "Von der sozialen Integration zum Gemeinsamen Leben und Lernen", einen Beitrag von Dr. Theo Frühauf. Dr. Theo Frühauf war Leiter des Bereichs 'Familie und Fachfragen' in der Bundesgeschäftsstelle von 1988 bis 2005.
Die Erziehung, Betreuung und Pflege von Kindern mit Behinderung in der Familie kostet viel Zeit und Kraft. Häufig muss die Familie finanzielle Aufwendungen erbringen, die mit den gesetzlich geregelten Ausgleichsleistungen nur annähernd aufgefangen werden. Hier setzen die seit den 1980er-Jahren von der Lebenshilfe angebotenen Familienentlastenden Dienste an.
Zu den Erfolgsgeschichten der Lebenshilfe gehört die flächendeckende Verbreitung von Familienentlastenden (FED) bzw. Familienunterstützenden Diensten (FUD) seit den 1980er-Jahren. Sie verfügen über qualifizierte Helferinnen und Helfer und bieten die Betreuung geistig behinderter Menschen für wenige Stunden bis hin zu mehreren Wochen an – teils innerhalb der Familie, teils außerhalb.
Das Konzept kommt lange zurückgestellten Bedürfnissen entgegen: Die Eltern können abends oder am Wochenende endlich wieder einmal etwas zusammen unternehmen. Sie finden Zeit und neue Kraft für ihr eigenes Leben. Die FED entlasten nicht nur die Hauptbetreuungspersonen, sondern tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Sie fördern die Selbstständigkeit und ermöglichen die allmähliche Ablösung vom Elternhaus. Den Familien werden keine standardisierten Leistungspakete angeboten, sondern sie werden bei der Zusammenstellung individueller Hilfsangebote unterstützt. Von 1988 bis 1993 verdoppelte die Lebenshilfe ihr Angebot an FED von 120 auf fast 250.
Die von der Lebenshilfe verbreitete Idee, für Familien mit geistig behinderten Angehörigen ambulante Hilfe anzubieten, passte in den 1980er-Jahren in die Zeit. Der Gedanke der Offenen Hilfe wurde als neue sozialpolitische Leitlinie in das Bundessozialhilfegesetz (§ 3a) aufgenommen:
„Der Träger der Sozialhilfe soll darauf hinwirken, dass die erforderliche Hilfe so weit wie möglich außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen gewährt werden kann.“
Der Gesetzgeber betrachtete ambulante Hilfen als „oft sachgerechter, menschenwürdiger und zudem kostengünstiger“. Gleichzeitig sollte der „Abschiebung älterer oder behinderter Menschen aus ihrem Lebenskreis ins Heim“ entgegengewirkt werden.
Bitte lesen Sie dazu auch "Familienunterstützende und -entlastende Dienste – Versuch einer Zwischenbilanz", einen Beitrag von Prof. Dr. Johannes Schädler. Prof. Dr. Johannes Schädler war Referent für Eltern und Familie in der Bundesgeschäftsstelle der Lebenshilfe. Aktuell ist er Geschäftsführer des Zentrums für Planung und Evaluation sozialer Dienste (ZPE) in Siegen.
Die Zahl der alten Menschen mit geistiger Behinderung wächst und damit ihre Bedeutung für die Lebenshilfe. Menschen mit geistiger Behinderung wollen in Würde altern. Dafür setzt sich die Lebenshilfe ein.
Dank verbesserter medizinischer und hygienischer Versorgung und umfassender Förderung werden Menschen mit geistiger Behinderung heute fast genauso alt wie nichtbehinderte Menschen. Ihnen zu einem schönen und geruhsamem Lebensabend zu verhelfen, ist auch angesichts der demografischen Entwicklung eine der Zukunftsaufgaben der Lebenshilfe. Andere Länder sind uns in der Entwicklung notwendiger Hilfen voraus, weil in Deutschland durch die "Euthanasie" während der Herrschaft des Nationalsozialismus frühere Generationen von Menschen mit Behinderung ermordet wurden.
Die Lebenshilfe vertritt den Leitgedanken, dass sich die Grundbedürfnisse alter Menschen mit geistiger Behinderung nicht von denen Nichtbehinderter unterscheiden:
- Sie wollen nicht isoliert leben, sondern in vertrauter Umgebung mit Menschen, die sie kennen. Sie brauchen Hilfe bei der Strukturierung ihres Tagesablaufs und der Gestaltung ihrer Freizeit.
- Sie brauchen eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage im Alter.
- Bei Krankheit, Pflege und beim Sterben möchten sie von vertrauten Mitmenschen betreut werden.
Entsprechend formulierte die Lebenshilfe 1990 in ihrem Grundsatzprogramm:
„Geistig behinderte Menschen haben das Recht, ihr Alter nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Die Lebenshilfe hat die Pflicht, entsprechende Angebote vorzuhalten oder notwendige Hilfen zu vermitteln.“
„Marburger Appell“
Im September 2006 verabschiedeten die Delegierten der Mitgliederversammlung der Lebenshilfe u.a. folgende Aussagen und Forderungen:
- Das Recht auf Integration und Teilhabe kennt keine Altersgrenze.
- Für ältere Menschen mit geistiger Behinderung, die in ihren Familien oder im ambulanten Bereich leben, müssen auf Begleitung und Unterstützung ausgerichtete Angebote entwickelt und finanziert werden.
- Alte Menschen mit geistiger Behinderung benötigen bedarfsgerechte medizinische Versorgung. Dazu gehören besondere Hilfen bei Demenz.
- Auch bei größerem Pflegebedarf sollten sie vorrangig in ihrem Lebensumfeld betreut werden. Es ist sicherzustellen, dass Leistungen weiterhin im Rahmen der Eingliederungshilfe (Sozialgesetzbuch II) erbracht werden, damit sie bis zu ihrem Tod in ihrer vertrauten Wohnumgebung bleiben können.
Bitte lesen Sie dazu "Die Lebenssituation älter werdender und alter Menschen verbessern - eine wichtige Aufgabe der Lebenshilfe", einen Beitrag von Klaus Kräling. Klaus Kräling war Referent für Wohnen, Freizeit und Sport in der Abteilung Konzepte der Bundesgeschäftsstelle der Lebenshilfe.
Für Aufsehen sorgte 1989 ein geplantes internationales Symposium der Lebenshilfe in Marburg zu „Biotechnik – Ethik – geistige Behinderung“. Nach massiven Protesten wurde es abgesagt. Was war geschehen?
Die Entrüstung von Menschen mit Behinderungen und ihren Interessenverbänden entzündete sich an einem der eingeladenen Wissenschaftler, dem australischen Bio-Ethiker Dr. Peter Singer (*1946). Der Verfechter der sog. praktischen Ethik hatte sich mehrfach für die Tötung behinderter Babys ausgesprochen. Mit der Einladung Singers zu einem Fachkongress werte die Lebenshilfe dessen höchst umstrittene Thesen auf, mahnten die Kritiker.
Die Lebenshilfe führte demgegenüber ins Feld, dass behindertes Leben vor und nach der Geburt weltweit infrage gestellt werde. Deshalb habe sie das Schwerpunktthema gewählt, um das Lebensrecht schwer geschädigter Säuglinge zu verteidigen und auch Protagonisten der Gegenmeinung die Unmenschlichkeit ihrer Meinung vor Augen zu führen.
Doch hatte die Lebenshilfe die Brisanz des Themas offensichtlich unterschätzt. Vor dem Gebäude der Bundeszentrale in Marburg demonstrierten behinderte Menschen u.a. mit dem Slogan „Wir lassen nicht über unser Lebensrecht diskutieren“. Der neue Bundesgeschäftsführer Dr. Bernhard Conrads distanzierte sich für die Bundesvereinigung Lebenshilfe entschieden von den Thesen Singers und stellte klar, dass die Lebenshilfe aktive Sterbehilfe bei Menschen mit Behinderung jeglichen Alters strikt ablehnt.
In den „Ethischen Grundaussagen“ (1990) formulierte die Lebenshilfe, dass Behinderung eine Seinsweise menschlichen Lebens neben anderen ist.
Einen Einschnitt in der jüngeren Diskussion ethischer Fragen innerhalb der Lebenshilfe bildet die Biomedizinkonvention des Europarates (1994). Sie soll Menschenrechte und Menschenwürde auch bei biomedizinischen Forschungseingriffen an einwilligungsunfähigen Menschen, denen ein Großteil der Menschen mit geistiger Behinderung zugerechnet wird, sowie bei der vorgeburtlichen Forschung schützen. Doch die Lebenshilfe und andere Verbände kritisierten, dass das Wohl des Einzelnen zugunsten vager Forschungs- und Therapieziele zurückgesetzt werde. Sie folgten damit dem Einsatz von Robert Antretter, dem späteren Bundesvorsitzender der Lebenshilfe, der als Vorkämpfer gegen die Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen die Rechte behinderter Menschen massiv verteidigte.
Die Würde aller Menschen zu schützen, ohne jede Sonderregelung für Menschen mit Behinderung, war auch die zentrale Forderung einer Tagung im Frühjahr 1998 in Kassel, an der Vertreter der Lebenshilfe teilnahmen. Angesichts knapper wirtschaftlicher Ressourcen würden behinderte Menschen zunehmend unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten betrachtet. Mithilfe medizintechnischer Methoden solle der „perfekte Mensch“ geschaffen werden – zu Lasten der Menschen mit Behinderungen. Deshalb sind gerade sie für die Lebenshilfe mehr denn je auf Schutz angewiesen.
Auf dieser Tagung wurde die Keimzelle für das 2002 gegründete „Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft“ gelegt.
Bitte lesen sie dazu auch "Zwischen Wächteramt und Inclusion – Gedanken zur Ethik (in) der Lebenshilfe im Spannungsfeld von Überzeugungen, Interessen und gesellschaftlichen Herausforderungen", einen Beitrag von Prof. Dr. Therese Neuer-Miebach. Prof. Dr. Neuer-Miebach war bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe u.a. Referentin für ethische Fragen. Z. Zt. ist sie Professorin i.R. an der Fachhochschule Frankfurt im Fachbereich Sozialarbeit und Mitglied des Nationalen Ethikrates.
Seit vielen Jahren ist innerhalb der Bundesvereinigung Lebenshilfe die Arbeitsgemeinschaft Seelsorge aktiv.
„In jedem von uns gibt es eine tiefe Sehnsucht nach dem letzten Sinn des Lebens, nach dem Wohin und Woher. Viele Menschen, seien sie behindert oder nicht, finden Antwort in ihrer Religion“, heißt es im Grundsatzprogramm der Lebenshilfe.
Wer geistig behinderte Menschen zur Religion hinführen möchte, muss den Glauben erlebbar machen. „Dazu brauchen geistig behinderte Menschen vor allem aus dem Glauben lebende Bezugspersonen“, stellt die Lebenshilfe fest.
Allein oder in der Gruppe: Freizeit soll vor allem Spaß machen und für Abwechslung im täglichen Lebensrhythmus sorgen. Wie kein anderer Bereich bietet sie Menschen mit geistiger Behinderung vielfältige Möglichkeiten zum ungezwungenen Miteinander auch mit nichtbehinderten Menschen.
Spielnachmittage, gemeinsames Basteln u.a. bot die Lebenshilfe seit ihrer Gründung an. Auch in den ersten Werkstätten achtete sie darauf, durch Freizeitangebote einen Ausgleich zur Arbeit zu schaffen. In den 1980er-Jahren entstanden Freizeitklubs, die örtlichen Vereinigungen suchten Kontakt zu Sport-, Wander- und sonstigen Vereinen.
1983 erarbeitete die Lebenshilfe Empfehlungen zum Freizeitbereich für Menschen mit geistiger Behinderung. Sie ermunterte ihre Mitglieder, durch Freizeitgestaltung die Chancen auf Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf gesellschaftliche Integration von Menschen mit geistiger Behinderung zu nutzen.
„Eine solche Spielfreude und einen solchen Teamgeist habe ich selten erlebt."
Fritz Walter über die Fußballtreffen der Lebenshilfe
Heute gibt es ein vielfältiges Angebot zu nahezu allen Sportarten und Freizeitbeschäftigungen. Menschen mit geistiger Behinderung brauchen mehr als andere Menschen Anregungen und Hilfe. Diese Aufgabe übernehmen neben pädagogischen Fachkräften vielerorts auch ehrenamtliche Helfer. Um zukünftige Nutzer mit ihren Wünschen und Interessen besser zu erreichen, sollten die Angebote auf Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten ausgerichtet sein. Dabei gilt es, auch Menschen mit schwerer oder Mehrfachbehinderung sowie Kinder, Jugendliche und Alte zu erreichen.
Auch Kunst und Kreativität gehören zum Leben von Menschen mit geistiger Behinderung selbstverständlich dazu. Künstlerische Begabung, das dringende Bedürfnis nach Gestaltung, Schöpfertrieb, Intuition und Fantasie finden sich bei ihnen genauso wie bei nichtbehinderten Menschen. Die kreativen Fähigkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung werden zunehmend beachtet und festigen ihr Selbstvertrauen. Aus der Achtung der Umwelt schöpfen sie einen Teil ihrer Selbstachtung.
Die Lebenshilfe hat Menschen mit geistiger Behinderung zahlreiche Möglichkeiten geschaffen, um der Öffentlichkeit ihren künstlerischen Blick auf die Welt zu zeigen. „SEH-WEISEN“ nannte die Lebenshilfe ihren erstmals 1983 veröffentlichten, erfolgreichen Kalender mit Bildern von Menschen mit Behinderung. In vielen Orten wurden – auch unabhängig von der Lebenshilfe – künstlerische Vereine gegründet und Initiativen gestartet.
Beispielhaft genannt seien
- das „Blaumeier-Atelier“ in Bremen (1986),
- das „Theater Thikwà“ (1989)
- der Verein Sonnenuhr (1990) mit dem Theater „RambaZamba“ in Berlin
- Ateliers wie die „Kraichgauer Kunstwerkstatt“ in Sinsheim (1991)
- und das Kunstatelier der Lebenshilfe Braunschweig (1992).
Hinzu kommen die großen Veranstalter EUCREA-Deutschland, z. B. mit dem Theaterfestival in Marburg (2002), sowie die Lebenshilfe Kunst- und Kultur gGmbH, u. a. mit den Festivals „Theater Brût“ in Passau (2005), „Grenzenlos Kultur“ in Mainz (seit 1997) und „No Limits“ in Berlin (seit 2005).
„Ich finde es wunderbar, dass es durch die Arbeit der Lebenshilfe so viele Möglichkeiten gibt, den Eltern bei der Entwicklung ihrer schwerbehinderten Kinder zu helfen.“
Lieselotte Radtke, Hamburg
Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit schwerer und mehrfacher Behinderung sind von anderen Menschen abhängig. Oft ist regelmäßige Hilfe bei der Bewegung notwendig, meist auch zur Kommunikation, zur Gesundheit und zur Beteiligung am sozialen Leben, weil sie häufig verhaltensauffällig sind. Mit intensiver und ständiger Begleitung sind die Menschen mit hohem Hilfebedarf fähig, sich die Welt durch aktive Wahrnehmung anzueignen, anderen Menschen zu begegnen und am Leben der Gesellschaft teilzuhaben.
Im Jahr 1977 veranstaltete die Bundesvereinigung Lebenshilfe die richtungsweisende Studientagung „Hilfen für schwer geistig Behinderte – Eingliederung statt Isolation“, um Impulse für die Eingliederung der schwer geistig behinderten Menschen zu geben. Lange Zeit konnten Eltern ihre Kinder mit schwerer geistiger Behinderung ohne pädagogische und therapeutische Hilfen nur in der Familie betreuen. Doch in den 1980er-Jahren öffneten sich gemeindenahe Einrichtungen auch für sie. Nun spielten sie mit Gleichaltrigen in Sonderkindergärten und nahmen an der Frühförderung teil. Verschiedene Schulprojekte zeigten, dass sie nicht nur „pflegebedürftig“ sind, sondern sinnvolle schulische Lernangebote erhalten können. Viele Werkstätten schufen besondere Fördergruppen für Menschen mit hohem Hilfebedarf.
Eine besondere Bedeutung haben für sie und ihre Familien die sog. Offenen Hilfen. Sie bieten Freizeit-, Bildungs- und Ferienmöglichkeiten sowie Betreuung für ganze Tage oder an Wochenenden. Hinzu kommen Beratungs- und Integrationshilfen. Alle diese Angebote ermöglichen es Menschen mit schwerer Behinderung, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten, anderen zu begegnen, ihren Horizont zu erweitern und aus der begrenzten Welt von Familie und Betreuungseinrichtungen herauszukommen.
Menschen mit schweren Behinderungen sind oft ausgegrenzt und einsam. Diese Situation zu verändern ist eine vordringliche Aufgabe der Lebenshilfe. Der bundesweite Kongress „Wir gehören dazu!“ 2006 in Magdeburg endete mit dem „Magdeburger Appell“. Hier fordert sie u.a.:
- Menschen mit schweren Behinderungen haben wie alle anderen ein Recht auf Leben in Würde, Achtung ihrer Einzigartigkeit, Bildung, Förderung und Unterstützung. Auch für sie gelten als Lebensziele Sinnerfüllung, Wohlbefinden und Glück.
- Menschen mit schweren Behinderungen haben das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, unabhängig von Art und Ausmaß der Beeinträchtigung, sowie ein uneingeschränktes Wahlrecht, welche Hilfen sie in Anspruch nehmen möchten.
- Als Bürgerinnen und Bürger von Städten und Gemeinden müssen sie inmitten der Gesellschaft leben können.
Stichwort: Lebensqualität
Menschen mit schwerer Behinderung eröffnen sich selbst Möglichkeiten, auf die Gestaltung des eigenen Lebens Einfluss zu nehmen. Dies zeigt sich vor allem bei Nahrungsaufnahme, Mobilität und Körperpflege. Ihre Wünsche, Vorlieben und Abneigungen zeigen sie oft nonverbal. Beispiel: Frau A. kann mit Hilfe einer kleinen Fotomappe, die eine Mitarbeiterin mit ihr erarbeitet hat, ihre Wünsche äußern und durchsetzen. Die Wünsche beziehen sich u. a. auf das Essen und Trinken oder verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten . Auch bei mehrfacher Behinderung ist Lebensfreude und Lebensqualität möglich: u.a. durch eine bedürfnisgerechte, vertraute Umgebung, Teilhabe am täglichen Ablauf nach den jeweiligen Möglichkeiten, das Äußern individueller Wünsche und Bedürfnisse, emotionale und körperliche Zuwendung des Pflege- und Betreuungspersonals, regelmäßigen Kontakt mit Eltern und Familie, Teilnahme am Gemeinschaftsleben, Bildung und Beschäftigung (z.B. Musiktherapie) sowie Unternehmungen aller Art.
Bitte lesen Sie dazu auch 'Lebenshilfe' für Menschen mit hohem Hilfebedarf, einen Beitrag von Prof. Dr. Theo Klauß. Prof. Dr. Klauß war Professor für "Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung" in Heidelberg und ist Mitglied des Bundesvorstands der Lebenshilfe.
"Sparmaßnahmen dürfen nicht den Kern dessen bedrohen,
was in 25-jähriger Arbeit für die Entfaltung der
Persönlichkeit geistig behinderter Menschen
von der Lebenshilfe erarbeitet wurde."
Aus "Rückblick - Ausblick." Marburg, 1983
Stolz auf das Geleistete und der Blick für neue Aufgaben, Rückblick und Ausblick kennzeichneten die Jubiläumsschrift zum 25-jährigen Bestehen der Lebenshilfe im Jahr 1983.
Die Autoren dankten den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung ebenso wie den Eltern, Angehörigen und vielen ehrenamtlich Tätigen für ihren jahrelangen, unermüdlichen Einsatz. Und schon damals bedrohten Sparmaßnahmen die kontinuierliche Arbeit der Lebenshilfe. „Um das zu verhindern, müssen auch weiterhin geistig behinderte Menschen, ihre Angehörigen, die Fachleute und die zuständigen öffentlichen Stellen partnerschaftlich zusammenarbeiten“, appellierten die Autoren in ihrem Schlusswort.
Im Jubiläumsjahr 1983 konnte die Lebenshilfe eine beeindruckende Bilanz präsentieren:
- Den 400 Orts- und Kreisvereinigungen gehörten fast 92 000 Mitglieder an.
- In 25 Jahren hatte die Lebenshilfe 410 Sonderkindergärten und 550 Schulen bzw. Tagesbildungsstätten aufgebaut.
- Viele tausend Menschen mit Behinderung arbeiteten in 342 Werkstätten, in den 328 Wohnstätten lebten rund 8100 Menschen.
- Seit 1970 bot sie für ihre ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter Fortbildungsveranstaltungen an. Bis 1983 hatten über 10 000 Menschen dieses Angebot genutzt.
Die Jahre:
Ereignisse:
6. Ordentliche Mitgliederversammlung
Schwerpunktthemen:
Die besondere Stellung der Eltern/Sorgeberechtigten innerhalb der Lebenshilfe, Stärkung und Vereinheitlichung der Organisationsstruktur der Lebenshilfe
Bundesvorstand:
Prof. Dr. Ludwig von Manger-Koenig (Bundesvorsitzender)
Günter Jaspert
Prof. Dr. Heinz Krebs
Gerd Bonn-Meuser
Rolf Schülli
Hubertus Stroebel
Marie-Luise Trappen
Kooptierte Mitglieder:
Prof. Dr. U. Ksztantowicz
Renate Börner
Umstellung der bisherigen Lebenshilfe-Vierteljahresschrift in "Lebenshilfe-Zeitung" (Auflage 120 000) und Fachzeitschrift „Geistige Behinderung" (Auflage 10 000)
394 Orts- und Kreisvereinigungen
85 954 Mitglieder
Ereignisse:
10. Studientagung in Aachen: „Humanes Wohnen" im "Internationalen Jahr der Behinderten"
Das Projekt "Sehweisen" - Kunstausstellung wird ins Leben gerufen
395 Orts- und Kreisvereinigungen
87 949 Mitglieder
Ereignisse:
7. Ordentliche Mitgliederversammlung:
Schwerpunktthemen:
Zur Problematik der Integration geistig Behinderter
Mehr Lebenshilfe durch freiwillige Helfer – neue Impulse für die Arbeit mit geistig Behinderten
399 Orts- und Kreisvereinigungen
89 172 Mitglieder
410 Sonderkindergärten
550 Schulen/Tagesbildungsstätten
342 Werkstätten für Behinderte
328 Wohnstätten
Menschen:
Marie-Luise Trappen
Bundesvorsitzende der Lebenshilfe
von 1983 bis 1984
Ereignisse:
25 Jahre Bundesvereinigung Lebenshilfe
Der Lebenshilfe-Kalender SEH-WEISEN geistig behinderter Künstler erscheint zum ersten Mal!
400 Orts- und Kreisvereinigungen
91 848 Mitglieder
Menschen:
Annemarie Griesinger
Bundesvorsitzende der Lebenshilfe
von 1984 bis 1996
Ereignisse:
8. Ordentliche Mitgliederversammlung:
Schwerpunktthema:
Mitgliedschaften in örtlichen Lebenshilfe-Vereinigungen
Bundesvorstand:
Annemarie Griesinger (Bundesvorsitzende)
Renate Börner
Günter Jaspert
Prof.Dr. Heinz Krebs
Gerd Bonn-Meuser
Hubertus Stroebel
Marie-Luise Trappen
Kooptierte Mitglieder
Prof. Dr. Udo Wilken
Einweihung der „Bildungs- und Begegnungsstätte" und der neuen Fachbibliothek in den Räumen der Bundeszentrale der Lebenshilfe in Marburg
399 Orts- und Kreisvereinigungen
93 099 Mitglieder
Menschen:
Boris Becker (mitte) und Dr. Bernhard Conrads (links).
Der damalige Bereichsleiter Dr. Bernhard Conrads freut sich über die Spende des Wimbledonsieger Boris Becker.
Ereignisse:
1. Europäischer Kongress der Europäischen Liga in Hamburg:
"Normalisierung - eine Chance für Menschen mit geistiger Behinderung"
400 Orts- und Kreisvereinigungen
94 827 Mitglieder
Ereignisse:
9. Ordentlliche Mitgliederversammlung:
Schwerpunktthema:
Lebenshilfe – Herausforderung und gemeinsame Aufgabe für alle Generationen
Menschen:
Dr. Bernhard Conrads. Bundesgeschäftsführer der Lebenshilfe seit 1988
Ereignisse:
30 Jahre Bundesvereinigung Lebenshilfe
1. Parlamentarierabend der Lebenshilfe in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Bonn (fortan jährlich)
10. Ordentliche Mitgliederversammlung:
- Schwerpunktthemen: Grundsatzprogramm der Lebenshilfe
- Verabschiedung von Dr. h.c. Tom Mutters als Bundesgeschäftsführer
- Dr. h.c. Tom Mutters wird zum Ehrenvorsitzenden gewählt
- Dr. Bernhard Conrads wird neuer Bundesgeschäftsführer
Bundesvorstand:
Annemarie Griesinger (Bundesvorsitzende)
Renate Börner
Günter Jaspert
Prof. Heinz Krebs
Dr. Hubertus Stabenow
Hubertus Stroebel
Marie-Luise Trappen
Kooptierte Mitglieder:
Ingrid Körner
Freundeskreis der Lebenshilfe: Prominente Persönlichkeiten engagieren sich für die Menschen mit geistiger Behinderung
Neuorganisation der Bundeszentrale – jetzt: Lebenshilfe-Verlag Marburg, Lebenshilfe-Bibliothek mit 5.000 Büchern
397 Orts- und Kreisvereinigungen
100 272 Mitglieder
Ereignisse:
Mit dem Fall der Berliner Mauer öffnen sich die Grenzen auch für die Lebenshilfe.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe lädt InteressentInnen aus der DDR nach Marburg ein, um über Hilfen für behinderte Menschen und über die Gründung einer Selbsthilfevereinigung zu diskutieren.
Daraus entwickelt sich später die Lebenshilfe DDR.